Der Dissident auf einem TV-Bildschirm
Bildrechte: Alexander Zemlianischenko/Picture Alliance

Alexej Nawalny bei einer Gerichtsverhandlung

Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Nawalny über Putin: "Wir ließen die Ziege an die Kohl-Vorräte"

In seiner ersten Stellungnahme nach der Verurteilung zu weiteren 19 Jahren Haft kritisiert Russlands bekanntester Oppositioneller in einer "Beichte" die Leute, die Putin den Weg zur Macht geebnet haben: "Ich kann nicht anders als sie zu hassen."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Das Wichtigste im Gefängnis sei es, seinen Hass zu überwinden, so Alexej Nawalny in einer ausführlichen Stellungnahme, die er auf Russisch und Deutsch auf seine Hompage stellen ließ: "Wenn du dem Hass freien Lauf lässt, wird er dich töten und verschlingen." Doch der in einem Straflager einsitzende bekannteste russische Regimekritiker, der kürzlich wegen "Extremismus" weitere 19 Jahre Haft erhielt und ständig wegen angeblicher Disziplinarvergehen in eine Sonderzelle gesperrt wird, räumte in seiner "Beichte" offen ein: Er selbst könne seinem eigenen Anspruch nicht gerecht werden. Er hasse das Regime nämlich "heftig und wahnsinnig".

Bestärkt sei er durch seine aktuelle Gefängnis-Lektüre, Natan Scharanskis nicht ins Deutsche übersetzte Buch "Ich fürchte kein Unglück, denn du, Herr, bist bei mir" ("Fear No Evil", 1988), ein Zitat aus dem Psalm 23 der Bibel. Der aus dem ukrainischen Donezk gebürtige Scharanski (75) hatte zu Sowjetzeiten neun Jahre im sibirischen Straflager gesessen und war 1986 ausgetauscht worden. Er ging nach Israel, wo er es bis zum Innenminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten brachte.

"Jetzt müssen wir dafür bezahlen"

Nawalny rechnet herbe mit den neunziger Jahren und den damaligen russischen Akteuren ab: "Ich hasse die Autoren der dümmsten autoritären Verfassung, die wir Idioten auch noch als demokratisch verkauft haben und die dem Präsidenten schon damals die Macht eines vollwertigen Monarchen verliehen haben." Die Chance, eine Justizreform auf den Weg zu bringen, habe es 1991 durchaus gegeben, doch schon zwei Jahre später sei sie vertan worden: "Täuschen Sie sich also nicht: Der Bau des Systems, das heute bekanntermaßen Haftstrafen von 8, 15 oder 20 Jahren gegen Unschuldige verhängt, begann lange vor Putin. Und jetzt ist klar: Im Kreml und in der Regierung der Neunzigerjahre wollte niemand ein unabhängiges Gericht. Denn ein solches Gericht wäre ein Hindernis für Korruption und Wahlbetrug gewesen."

Er selbst habe "alles getan, das nicht zu bemerken", gab sich Nawalny selbstkritisch: "Jetzt müssen wir dafür bezahlen, dass wir 1996 der Meinung waren, dass die Fälschung von Wahlergebnissen nicht unter allen Umständen eine schlechte Sache sei. Der Zweck heiligte die Mittel." Er hasse Boris Jelzin und dessen Kamarilla, die offenbar nicht versucht habe, demokratische Reformen durchzusetzen: "Als Putins berüchtigte KGB/FSB-Offiziere freien Durchmarsch zu politischen Ämtern erhielten, mussten sie nichts weiter tun."

"Ich hasse die Ziege aufs Schärfste"

Einen eigentlichen Putsch habe es diesbezüglich nicht gegeben, Putin und die Seinen hätten nur abwarten müssen: "Wir ließen die Ziege an die Kohlvorräte und wunderten uns dann, dass sie den ganzen Kohl gefressen hat. Er ist eine Ziege, seine Mission und sein Ziel ist es, Kohl zu verschlingen, im Prinzip fällt ihm nichts anderes ein. Es ist sinnlos, sich darüber aufzuregen. Im Prinzip kann und wird sich Putins FSB-Beamter also auch nichts anderes einfallen lassen, als ein riesiges Haus zu bauen und diejenigen einzusperren, die er nicht mag. Obwohl ich die Ziege nicht ausstehen kann, hasse ich diejenigen, die sie an die Kohlvorräte ließen, aufs Schärfste und Wahnsinnige."

Seine "größte Angst" sei es, so Nawalny, dass Russland abermals versagen könnte wie unter Jelzin: "Ich glaube nicht nur, sondern ich weiß, dass Russland eine weitere Chance haben wird. Das ist ein historischer Prozess. Wir werden wieder am Scheideweg stehen. Mit Entsetzen und kaltem Schweiß springe ich nachts aus meiner Koje, wenn es mir so vorkommt, als hätten wir wieder eine Chance, und wir abermals denselben Weg wie in den Neunzigern beschreiten." Konkret warnt der Regimekritiker vor Kompromissen mit angeblich "liberalen" Vertretern des Putin-Machtapparats, etwa dem Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin. Ironisch schreibt Nawalny, dann sei es wohl das Beste, gleich der Putin-Partei "Einiges Russland" beizutreten.

"Wow, alles wie bei mir"

"Das wahre Leben ist komplex, hart und voller Kompromisse mit unangenehmen Menschen. Aber zumindest sollten wir selbst nicht proaktiv gegenüber diesen Menschen werden und Korruption samt zynischer Machenschaften begrüßen, bevor die Umstände solche Kompromisse erzwingen", so Nawalny. Seine Anhänger forderte er dazu auf, ihm Hinweise zukommen zu lassen, wie er seine "Angst" unter Kontrolle bringen könne. Die würden ihm dann postalisch zugestellt. In Russland hatte es Spekulationen gegeben, der inoffizielle Oppositionsführer könne völlig isoliert werden, doch dann hieß es, Nawalny dürfe durchaus überwachten Kontakt mit der Außenwelt haben.

"Nur wenn die überwältigende Mehrheit der russischen Opposition aus Leuten besteht, die unter keinen Umständen gefälschte Wahlen, Missstände und Korruption akzeptieren, können wir die Chance, die sich mit Sicherheit wieder ergibt, richtig nutzen", so Nawalnys Fazit. "Damit im Jahr 2055 niemand ein Buch von Scharanski in der Sonderzelle zur Hand nimmt und denkt: Wow, alles ist wie bei mir."

"Wer Licht und Glauben behält, wird Erfolg haben"

Die Kolumnistin eines der größten russischen Telegram-Portale, Ekaterina Winokurowa, kritisierte in einem Blog Nawalny und seine Mitstreiter, weil sie an der Spitze der Opposition jahrelang niemanden als Konkurrenten geduldet hätten: "Wir alle, die hier geblieben sind und das Land nicht verlassen haben, sind hier, um sie zu retten, und ich kann nur hoffen, dass ich selbst nicht aus meinem eigenen Land vertrieben werde. Mein persönlicher Verbündeter ist einfach jeder gute Mensch. Jeder, der noch das Licht und den Glauben behält, wird auch Erfolg haben. Gleichzeitig kann ich unter der Einschränkung, meine Person schützen zu müssen, als Mensch nicht umhin, Mitgefühl für die Situation zu zeigen."

Der im Ausland lebende Oligarch und Putin-Kritiker Michail Chodorkowski bezweifelte, dass Nawalny die "Beichte" tatsächlich selbst verfasst hat. Allerdings wird gerade Chodorkowski in dem Text herbe dafür angegangen, dass er seine Anhänger aus dem Exil dazu aufgerufen habe, sich der Rebellion von Söldnerchef Jewgeni Prigoschin anzuschließen und mit Waffen gegen Putin zu kämpfen. Das hielt Chodorkowski so formuliert für eine "glatte Lüge": "Die ist grundlegender Natur: Der Aufruf, sich 'Prigoschins Abteilungen anzuschließen', unterscheidet sich stark von dem Aufruf, Prigoschin bei der Auseinandersetzung mit Putin zu helfen und sich mit Waffen einzudecken, um selbst die Macht zu übernehmen." Der Oligarch ergänzte allerdings, Russland brauche Nawalny weiterhin als "talentierten Politiker", weil es davon nur wenige gebe.

Propagandist empfiehlt Fronteinsatz

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow freute sich über die Meinungsverschiedenheiten zwischen den prominenten russischen Oppositionellen und steuerte die bizarre Propaganda-Lyrik bei, Nawalnys Äußerungen seien ja allesamt vom "britischen Geheimdienst" inspiriert, insofern streite Chodorkowski eigentlich mit London. Verfasst habe die "Beichte" Nawalnys Mitarbeiterin Maria Pevchikh, eine profilierte Regimekritikerin und Korruptionsbekämpferin, die vom amerikanischen "New Yorker" mal als systemkritische "Großinquisitorin" Russlands gewürdigt wurde. Der zynische Rat von Markow: "Ich wünsche sowohl Chodorkowski als auch Nawalny ihre Freiheit zurück. Der Weg dahin ist einfach: Reue und als Freiwillige in die Reihen der russischen Armee an die Front gehen."

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!