"Archäologie ist keine Wissenschaft für schwache Nerven", so der russische Experte Ilja Korsakow: "Sie ist nichts für zart besaitete junge Mädchen und Muttersöhnchen in Samt und Seide." Damit spielte der Altertumswissenschaftler aber nicht auf eventuelle gruselige Entdeckungen an, sondern auf das derzeit "schottische Wetter" in der sibirischen Region Tuwa, unweit der Grenze zur Mongolei. Es regne in Strömen, bald sei enorme Hitze angesagt, die Ausgrabungen würden zur reinsten "Sklavenarbeit": "Archäologie ist in jeder Hinsicht Hardcore." Doch für ihre Mühen wurden die Teilnehmer der russischen Expedition belohnt: Sie entdeckten auf skythischen Grabhügeln nach eigenen Angaben Überreste von Pferde- und Menschenopfern.
Bestattungsritual? - "Eine Art Installation"
Der Leiter der Ausgrabung, Timur Sadikow, sagte der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" [externer Link], es handle sich um Knochenreste und Bronzegegenstände: "Es gibt eine Erwähnung beim griechischen Historiker Herodot, die sehr berühmt wurde. Ein Jahr nach der Beisetzung eines skythischen Königs wurde eine solche 'Installation' auf dem Hügel errichtet. Getötete, prächtig aufgezäumte Pferde, tote Reiter, die speziell aus diesem Anlass geopfert wurden. Natürlich ist es seltsam, einen solchen Begriff zu verwenden, aber genau das nennt man in der modernen Kunst eine Art Installation. Es ist offensichtlich, dass es damals wahrscheinlich Teil eines Bestattungsrituals war."
Üblicherweise seien organische Überbleibsel über so lange Zeit hinweg nicht mehr erhalten, da sie durch die Witterung zerstört würden. Auf dem Grabhügel in Tuwa allerdings seien die Opfer mit großen Steinen abgedeckt worden, wodurch noch Spuren vorhanden seien. Die Anlage wurde auf das 9. Jahrhundert vor Christus datiert und gehört damit zu den ältesten derartigen skythischen Hinterlassenschaften. Die Expedition begann Ende Mai und soll noch bis in den Herbst fortgesetzt werden.
Herodot: "Stange durch den Pferdeleib"
Sadikow spielt auf eine so berühmte wie grausliche Stelle aus dem 4. Buch von Herodots "Historien" an, wo es wörtlich heißt, dass die Skythen ein Jahr nach der Beerdigung eines Königs dessen Lieblingsdiener opferten, um sie auf dem Grabhügel beizusetzen: "Von diesen Dienern erwürgen sie fünfzig und dazu fünfzig der schönsten Rosse, entleeren und reinigen das Innere der Leichen und nähen sie mit Spreu gefüllt wieder zu. Sie treiben jeder Leiche ein gerades Holz entlang dem Rückgrat durch bis zum Nacken. Das untere überstehende Ende dieses Holzes stecken sie in ein Bohrloch einer anderen Stange, welche durch den Pferdeleib geht, und nachdem sie die Reiter solcher Art rings um das Grabmal aufgestellt haben, ziehen sie weiter."
Der Brauch, Angehörige und Untergebene für einen verstorbenen Stammesfürsten zu opfern, wird in der Archäologie als "Totenfolge" bezeichnet. Die Entdeckung von Tuwa ist nicht die erste ihrer Art. Auch an der Schwarzmeerküste wurden bereits monumentale Grabhügel freigelegt, auch als "Kurgane" oder Tumuli bezeichnet, die einen Durchmesser von bis zu 100 Metern und eine Höhe bis zu 20 Metern haben. Untersuchungen haben ergeben, dass Herodot die Gewohnheiten der Skythen recht präzise beschrieb: Zur Einbalsamierung wurden die Leichen vom Rücken aus geöffnet, ausgeweidet und die Hautlappen danach säuberlich wieder zusammengenäht.
Skythen "grausames Reitervolk"
Konrad Spindler von der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg warnte in einem Fachbeitrag allerdings schon 1982 davor [externer Link], durch Ausgrabungen belegte Mehrfachbestattungen stets als Beweise für die freiwillige oder unfreiwillige "Totenfolge" zu werten. Es könne sich auch um Familiengrabstätten handeln, in denen Angehörige wie in einer Gruft nach und nach beigesetzt worden seien.
Dass die Skythen ein "grausames" Reitervolk gewesen sein müssen, konnten internationale Archäologen im Dezember letzten Jahres auch dadurch belegen [externer Link], dass sie in den Gräbern hochgestellter Personen auf dem heutigen Gebiet der Ukraine Pfeilköcher sicherstellten, deren Leder teilweise mit Menschenhaut überzogen war. Nach Herodot war es bei den nomadisch lebenden Skythen üblich, die Haut der rechten Hand erschlagener Feinde zu gerben und als Trophäe mitzuführen, ähnlich wie "Skalpe".
Es versteht sich von selbst, dass die neuesten Entdeckungen in Tuwa im Zusammenhang mit Putins Angriffskrieg in der Ukraine von russischen Lesern spöttisch kommentiert werden: "Wenn auch wirklich alle Stellvertreter einschließlich des gesamten Kabinetts mit unter die Erde mussten, wäre es ein schöner Anblick. Grandios und lehrreich", so ein Leserbeitrag. Einem weiteren war zu entnehmen, dass solche Grabhügel nach dem Ukrainekrieg mit Sicherheit nicht von den Gefallenen zeugen würden.
Skythen "zu dünn über den Planeten verteilt"
Mit Blick auf die abgelegene sibirische Region, in der die Archäologen fündig wurden, meinte jemand: "Wurden die Skythen jetzt bereits bis nach Tuwa verbannt? Zunächst glaubte man, dass sie nördlich des Schwarzen Meeres lebten. Dann hieß es, am Kaspischen Meer. Schließlich wurde behauptet, sie seien auf der Flucht vor den Goten bis in den Iran und nach Pakistan gekommen. Schließlich lag Skythien angeblich in Indien. Auch die [zentralasiatische] chinesische Region Xinjiang war Thema. Haben sich die alten Skythen nun in der Mongolei festgesetzt? Verteilen die Archäologen dieses Volk nicht etwas zu dünn über unseren Planeten?"
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!