Eine schlagzeilenträchtige "Schrecksekunde" im Informationskrieg zwischen Russland und der Ukraine: Die staatseigene russische Nachrichtenagentur TASS und die ebenfalls kremlnahe Agentur RIA Nowosti, die beiden wichtigsten Propagandamedien, verunsicherten ihre Kunden und die Öffentlichkeit mit einer "Blitz"-Meldung, wonach sich die russischen Truppen vom linken Ufer des Dnjepr zurückziehen, um "vorteilhaftere Stellungen" weiter östlich einzunehmen. Die dadurch frei werdenden Kapazitäten sollten bei Offensiven an anderer Stelle eingesetzt werden, war zu lesen. Ganz unglaubwürdig war diese Nachricht zunächst nicht, sind russische Blogger doch höchst beunruhigt darüber, dass es der ukrainischen Armee gelang, Brückenköpfe am Dnjepr einzurichten, zu verteidigen und offenbar sogar auszuweiten. Die Lage an der Front ist demnach an dieser Stelle für die russische Seite alles andere als ermutigend, auch deshalb, weil Putins Armeespitze andere Schwerpunkte setzt.
"Offensichtlicher Fehler"
Nur zehn Minuten, nachdem die erwähnte Meldung gesendet war, kam von der russischen Armeespitze die Mitteilung, es handle sich um eine "Provokation", was natürlich kein formelles Dementi ist. TASS und RIA Nowosti seien womöglich auf einen gefälschten Telegram-Kanal hereingefallen, der aus der Ukraine gesteuert werde. Seitens der Agenturen war eine Entschuldigung fällig. Kremlsprecher Dmitri Peskow brachte sich mit der Bemerkung "in Sicherheit", für alle Militärangelegenheiten sei das Verteidigungsministerium zuständig: "Sie wissen, dass wir den Fortschritt und die Lage der Dinge direkt auf dem Schlachtfeld während der speziellen Militäroperation nicht kommentieren." Zu diesem Zeitpunkt war es jedoch bereits zu spät, spöttische Kommentare seitens russischer Blogger einzufangen, was einmal mehr beweist, wie hektisch und minutenabhängig das Nachrichtengeschäft geworden ist.
Die Armee werde sich vermutlich in Sibirien neu gruppieren, hieß es von eiligen Bloggern ironisch. Der prominente Militärblogger Roman Aljechin (100.000 Fans) schrieb ausgesprochen medienkritisch: "Gerade Provokationen werden nach Ansicht der Medienexperten des Feindes auch das Rating unseres Präsidenten und die Moral an der Front untergraben. Nun, das war ein offensichtlicher Fehler derjenigen, die für die Arbeit mit Informationen verantwortlich sind, denn während eines Angriffs muss man sich an der Stelle um die Verteidigung kümmern, an der der Feind zuschlagen kann. Es reicht einfach nicht aus, unsere Medien zu warnen, dass Provokationen möglich sind, die auf Diskreditierung abzielen." Alle Nachrichten "über seltsame Entscheidungen", die den russischen Sieg in Zweifel zögen, sollten vor der Veröffentlichung "noch einmal gründlich geprüft" werden.
"Menschen wollen Antwort auf zentrale Frage"
"Das ist noch nie passiert", wunderte sich Politologe Georgj Bovt. Er frage sich, ob solche Eilmeldungen zur "Marktmanipulation" genutzt würden. An satirischen Anmerkungen fehlte es nicht: Vor genau einem Jahr habe sich die russische Armee aus der südukrainischen Großstadt Cherson zurückgezogen, so der Telegram-Blog "Moskauer Wäscherei" mit rund 290.000 Abonnenten. Vermutlich habe Verteidigungsminister Sergej Schoigu deshalb beim Blick auf den Kalender entschieden, den weiteren Rückzug auf "vorteilhaftere Stellungen" lieber "hinter den Kulissen und ohne großes Aufsehen" hinter sich zu bringen, um die Jubiläumsstimmung in der Ukraine nicht noch weiter zu befeuern.
Kriegsblogger Boris Roschin bezeichnete die Vorgänge um die Fake-News als "clownesk", die eigenen Nachrichtenagenturen seien an "mangelnder Faktenprüfung" gescheitert, während sich die "Blogosphäre", wo es keine solchen Ansprüche gebe, als kritischer erwiesen habe: "Damit stellt sich eine Frage an die landesweiten Medien." TASS-Generaldirektor Andrej Kondraschow, der erst vor wenigen Monaten ins Amt kam, weil seinem Vorgänger vorgeworfen worden war, zu unkritisch über die Rebellion von Söldnerführer Prigoschin berichtet zu haben, sagte schmallippig: "Wir werden der Sache schon auf den Grund gehen, ich habe dazu vorerst keine Kommentare abzugeben."
Keine "denkenden Elemente" mehr?
Der rechtsextreme Politiker Igor Skurlatow wetterte, die "liberalen" russischen Medien "verstopften" die Kanäle mit falschen Rückzugsmeldungen und Nebensächlichkeiten wie der aktuellen Debatte über das Abtreibungsrecht, statt sich "im vollen Umfang" der Frage zu widmen, wann der Angriff auf Kiew beginne: "Oder besteht unser Ziel neuerdings darin, die Krim und die paar Reste der Ukraine zu verteidigen? Die Menschen wollen die Antwort auf die zentrale Frage wissen, auch im Präsidentschaftswahlkampf."
Skurlatows Kollege Alexej Schiwow meinte ziemlich entgeistert, im russischen Journalismus gebe es keine "denkenden Elemente" mehr, sondern nur noch Leute, die vermeintlich offizielle Texte ohne weitere Prüfung verbreiteten: "Du weißt, was mir wirklich Angst macht. Schließlich hätten TASS und RIA Nowosti nach der Falschmeldung des Verteidigungsministeriums Zeit und Gelegenheit gehabt, die Nachricht über die 'Umgruppierung' nicht sofort zu veröffentlichen, sondern Kommandeure vor Ort oder ihre eigenen Militärkorrespondenten anzurufen, oder zumindest irgendjemand. Aber nein. Es gab keinen einzigen Chef, der sagte: 'Leute, das muss noch einmal überprüft werden.'" Schiwow zufolge ist die Front "stabil", von einem Rückzug könne "zum jetzigen Zeitpunkt" keine Rede sein, was Raum für Spekulationen lässt.
"Kein Problem, sondern Katastrophe"
Seit längerem hadern russische Nationalisten mit der Informationspolitik des Kremls im Allgemeinen und der Armee im Besonderen: "Staatspropagandisten verstehen nicht, dass unsere Soldaten ohne ein klares und konkretes Ziel der Spezialoperation, ohne normale ideologische Arbeit in den Truppen, unter manchmal seltsamen und unprofessionellen Kommandeuren ihre eigene Ideologie entwickelten", so der umstrittene, weil Armee-kritische Blogger Romanow (136.000 Fans). Er und andere Netz-Kommentatoren hatten die "Frontalangriffe" der russischen Truppen am Dnjepr heftig kritisiert, weil sie "nicht nur ein Problem, sondern eine Katastrophe" für die betroffenen Soldaten seien. Sie hätten beim Angriff weder Kontakt zu Hubschraubern, noch zur Artillerie, was immer wieder zu "friendly fire" von der eigenen Seite führe. Die Frontkämpfer seien "nicht wegen, sondern trotz" ihrer Befehle im Einsatz, wichtige Ausrüstung sei nicht vorhanden. Der Kommandeur des Frontabschnitts wurde als "Arschloch" geschmäht, der sich "für einen weiteren Stern auf der Schulterklappe im Hauptquartier" verschanze.
"Sieht sehr traurig aus"
Andere, wie der oben erwähnte Roman Aljechin, bedauerten eine "Verknöcherung" des russischen Vorgehens: "Oft geht es nicht nur um Verkalkung, sondern darum, ob der gesunde Menschenverstand vorhanden ist oder nicht, um Professionalität, Patriotismus, Gleichgültigkeit oder Leidenschaft, Offiziersehre oder deren Fehlen, das Vorhandensein von Charakter, das Vorhandensein von Mut und Entschlossenheit usw. Leider haben in den zurückliegenden zwei Jahren Militärdienst nur wenige Menschen vom Präsidenten und dem Oberbefehlshaber gehört, dass Offiziere befördert werden sollten, die über positive Eigenschaften verfügen und Effizienz bewiesen haben. Und obwohl das auf den unteren Ebenen durchaus vorkommt, sieht es in den höheren Etagen damit alles sehr traurig aus."
Das viel gelesene Fachport-Portal "Rybar" mit 1,22 Millionen Lesern hatte eine ganze Reihe von Schwachpunkten der russischen Armee am Dnjepr bemängelt: Mangelnde Luftabwehr, zu wenig elektronische Ausrüstung und Kampfdrohnen. Es sei zu "ungeschickten" Angriffen und "grausamen Scherzen" mit vielen Gefallenen gekommen: "Nun, das wahrscheinlich größte Problem, das die Verteidigung der russischen Streitkräfte ernsthaft beeinträchtigt, ist eine gewisse Starrheit im Denken einiger Leute an der Spitze. Vielleicht ist das die Hinterlassenschaft von [dem früheren Befehlshaber an diesem Frontabschnitt] General Oleg Makarewitsch, der mit der Ankunft des neuen Kommandeurs [Michail Teplinsky] ersetzt wurde, vielleicht ist die Situation sogar noch schlimmer, als sie auf den ersten Blick aussieht."
Berufung auf ukrainische Stellen
Angesichts solcher Kommentare kommt es nicht von ungefähr, dass die gefälschte TASS-Meldung auf der Stelle geglaubt wurde. Die Vertrauenswürdigkeit der eigenen Armeeführung ist bei russischen Propagandisten demnach nahe oder gleich null. Die Ironie will es, dass sich die "Ultrapatrioten" lieber auf ukrainische Stellen berufen. In Kiew werde die Ankündigung einer russischen "Umgruppierung" als "Informationsmanöver" bezeichnet, so der Telegram-Blog "Russland kurzgefasst" mit rund 500.000 Fans. Die ukrainischen Frontsoldaten hätten jedenfalls "keine entsprechenden Bewegungen" auf russischer Seite wahrgenommen.
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