Eigentlich sei es ja selbstverständlich, dass jeder Ausländer die Gesetze des Landes respektiert, in dem er sich aufhält, so ein hellsichtiger russischer Blogger, der sich deshalb darüber wundert, dass Putins Regierung ein "Treuegelöbnis" für Touristen auf den Weg bringen will: "Lassen Sie uns das aus der Bürokratensprache allgemeinverständlich übersetzen: Es soll verboten werden, den Mund aufzumachen, ganz grundsätzlich. Das verheimlichen die Behörden nicht mal besonders: In dem Dokument heißt es unverblümt, dass das Recht auf Informationsfreiheit nicht 'missbraucht' werden dürfe. Missbrauchen Sie Ihre Freiheit ganz generell nicht, oder wir entziehen sie Ihnen. Oh, die Touristen werden in das gastfreundliche Russland strömen."
Zweifel an "spirituellen" Werten verboten
Zuvor hatte die staatliche Nachrichtenagentur TASS gemeldet, das russische Innenministerium habe einen Gesetzentwurf fertiggestellt, wonach alle einreisenden Personen sich künftig verpflichten müssen, weder die Politik Russlands zu "diskreditieren", noch "traditionelle Familienwerte" zu leugnen oder den "Beitrag des sowjetischen Volkes zum Sieg über den Faschismus" zu schmälern. Es gelte, die "nationalen Interessen" Russlands zu schützen. Konkret werden Ausländer nicht nur vor dem erwähnten "Missbrauch" der Informationsfreiheit gewarnt, sondern auch davor, "bedeutsame moralische und andere Werte der Verfassung" in Frage zu stellen. Verboten sind demnach alle "nicht-traditionellen" Ansichten über die Familie, Mutter- und Vaterschaft, und speziell die Ehe als Verbindung von Mann und Frau. Auch Zweifel an den "spirituellen" russischen Werten gelten als verdächtig. Nachdem speziell die internationale LGBT-Bewegung in Russland demnächst als "extremistisch" gelten soll, dürften vor allem offen homosexuelle oder Trans-Personen von dem "Treuegelöbnis" direkt betroffen sein.
Verstoß gegen "Treuegelöbnis" wird teuer
Nebenbei sollen sich Einreisende davor hüten, "nachlässig" mit Umwelt und Natur, sowie den natürlichen Lebensgrundlagen umzugehen, heißt es im Text bei TASS. Auch russische Folklore muss in jeder Hinsicht respektiert werden. Die zuständige Beamtin Valentina Kasakowa stellte in Aussicht, den Gesetzentwurf "bald" dem Parlament vorzulegen. Ausländer, die gegen das "Treuegelöbnis" verstoßen, sollen die Kosten für ihre Abschiebung tragen.
Das liberale Wirtschaftsblatt "Kommersant" verwies darauf, dass das Innenministerium bereits 2021 so eine Loyalitätsverpflichtung für Touristen und Geschäftsleute plante, das Vorhaben damals allerdings nicht weiterverfolgte. Seinerzeit sei auch angedacht gewesen, alle Ausländer in einem elektronischen Register zu erfassen. Dies soll allerdings nun nur noch für Menschen gelten, die in Russland arbeiten.
"Wir werden sehen, wer gewinnt"
Der in Russland einflussreiche rechtsextreme Philosoph Alexander Dugin begrüßte das geplante "Treuegelöbnis" mit den Worten: "Der Westen hat den Schwulen Treue geschworen (in jeder Hinsicht). Wir sind dem Traditionellen (also der Tradition) treu. Wir werden also sehen, wer gewinnt." Wenn Russland die Marktwirtschaft, das individuelle Glücksstreben und "LGBT-Werte" hinter sich lasse, werde es "viel einfacher sein herauszufinden, was zu unserer Ideologie gehören sollte". Solange es nicht um Geschlechter gehe, sei "Diversität" allerdings eine "gute Sache".
Politologe Georgi Bovt witzelte, der Kreml könne allen Ausländern ja einen Fragebogen vorlegen, ob sie auch alle Verkehrsregeln einhalten wollten. Im Übrigen müssten Einreisende garantieren, sich Russlands "verfassungsmäßiger Ordnung" nicht mit Waffengewalt zu widersetzen. Außerdem sei denkbar, alle Touristen zu Steuerzahlungen zu verpflichten, wenn "plötzlich Einkünfte entdeckt" würden: "Früher oder später scheint der Moment erreicht zu sein, in dem die Kriminalisierung sogenannter 'Gedankenverbrechen' den Punkt der Absurdität erreichen. Das ist jedoch noch nicht einmal Dummheit. Das kann vielmehr ernsthaft als Untergrabung der Autorität der Russischen Föderation auf der internationalen Bühne und als Diskreditierung – durch Profanierung und Absurdität – ihrer Innen- und Außenpolitik angesehen werden."
"Staatsbürgerschaft für Fronteinsatz"
In russischen Leserforen vermuteten manche, bei der TASS-Meldung müsse es sich um Fake-News handeln, schließlich habe es solche "Treuegelöbnisse" nur unter Hitler gegeben. Andere konnten sich vorstellen, dass auch alle Russen jeweils am Beginn eines Jahres der "Partei und der Regierung" Treue schwören müssten. "Vor nicht allzu langer Zeit, als die Esten so was Ähnliches präsentierten, riss sich [Propagandist] Solowjow im Fernsehen den Hintern auf und schimpfte über Diskriminierung. Was er jetzt sagen wird, könnte interessant sein", schrieb ein weiterer Kommentator.
"Sie können auch einen Absatz über die Liebe zu [dem nordkoreanischen Machthaber] Kim Jong-un ergänzen. Nur um nicht zweimal aufstehen zu müssen", hieß es in einer Meinungsäußerung. Überhaupt müssten alle Ausländer erst mal zwei Jahre an die Front, so ein Leser, danach könnten sie mit der russischen Staatsbürgerschaft "belohnt" werden.
Putin: "Große Familien sollten Norm werden"
Präsident Putin hatte bei einem Auftritt vor dem "Volksrat für die russische Welt" ausgeführt, was er unter "traditionellen Werten" versteht. Wörtlich sagte er: "Erinnern wir uns daran, dass in russischen Familien viele unserer Großmütter und Urgroßmütter sieben oder acht Kinder und noch mehr hatten. Lassen Sie uns diese wunderbaren Traditionen bewahren und wiederbeleben. Große Familien und kinderreiche Familien sollten für alle Völker Russlands zur Norm und zur üblichen Lebensweise werden. Die Familie ist nicht nur die Grundlage von Staat und Gesellschaft, sie ist ein spirituelles Phänomen, eine Quelle der Moral."
Damit löste Putin eine Welle der Kritik aus. Blogger Wladimir Patokow bemerkte: "Viele Kinder zu haben ist ein großes Glück, aber wenn der Kreml das zur Tradition ausruft, scheint es, dass er über die Abschaffung der Renten nachdenkt , weil es in den vergangenen Jahrhunderten die Nachkommen waren, die ihre betagten Eltern unterstützten." Andere machten deutlich, dass die Menschen im Mittelalter gar keine andere Wahl hatten, als viele Kinder zu zeugen, wobei viele früh gestorben und die Lebenserwartung generell niedrig gewesen sei: "Es wird problematisch sein, Jobs für so viele Arbeitskräfte zu finden, außer vielleicht in den Streitkräften unseres Landes."
"Verfall und Zerstörung des Lebens"
Blogger Dmitri Taratorin ist der Ansicht, dass es "absolut sinnlos" sei, die bäuerliche Welt früherer Zeiten zum Maßstab für die "moderne städtische Zivilisation" zu machen: "Kinder sind nicht für den Staat und für die Nation da, sondern sie müssen geliebt werden." Kollege Michail Deljagin wagte darauf hinzuweisen, dass Menschen Kinder zeugten, wenn "das Leben einen Sinn hat" und Vertrauen in die Zukunft bestünde: "Wenn sie den Verfall und die Zerstörung des Lebens um sich herum beobachten, bringen sie keine Kinder zur Welt."
Politologe Konstantin Kalaschew vermutete, Putin erwarte wohl "am liebsten Jungs": "Damit es später jemanden gibt, der bedient werden will. Der Aufruf hätte überzeugender geklungen, wenn der Präsident ein persönliches Beispiel gegeben hätte." Andere bezeichneten Putin gar als "Idioten", weil er sich offenbar nicht vorstellen könne, wie es sei, mit acht Kindern in "gewöhnlichen Stadtwohnungen" untergebracht zu sein.
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