"Gruß nach vorn" heißt einer der in Stadlobers Buch versammelten Texte Kurt Tucholskys, in dem sich der Autor an seine Leser in der Zukunft richtet und vermutet, dass die ihn gar nicht mehr verstehen werden. Nie irrte ein Autor schöner, denn wenn es ein Merkmal seiner rund einhundert Jahre alten Texte gibt, dann ist es ihre ungeheure Gegenwärtigkeit. Wir begreifen zum Beispiel sofort den sich durch Informationsüberfluss einstellenden Überdruss, den Tucholsky 1931 in seinem Artikel "Weltbild, nach intensiver Zeitungslektüre" schilderte, meint der Schauspieler Robert Stadlober. "Tatsächlich mache ich diesen Text oft live, sehr schnell, damit die Leute kaum mitkommen, weil es sich dann anfühlt wie die Push-Nachrichten-Armada, die einem ins Telefon reinknallt, oder per TikTok, Telegram, X – wie auch immer."
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Stadlober schließt daraus, dass es diesen Kulturpessimismus, der sich heute in dem Satz "Leg doch mal dein Handy weg" ausdrückt, damals auch schon gegeben haben muss. "Dass man nichts wirklich erlebt hat, weil man an jeder Straßenbahnhaltestelle auch schon das Extrablatt in die Hand gedrückt bekommen hat." Gleichzeitig, so Stadlober, sei das aber ja nur eine Aneinanderreihung von Fakten ohne Einordnung. "Was interessiert mich, ob der König von Spanien abdankt? Was hat das mit meinem Leben in diesem Moment zu tun?" Dass also dieser Tucholsky-Text heute noch live so gut funktioniert, wundert Stadlober nicht – eben weil sich jeder darin wiedererkenne. "Der Überfluss an Information führt eben dazu, dass man keine Zeit mehr hat, über das wirklich Interessante nachzudenken, oder auch einfach mal gar nicht nachzudenken."
Tucholsky urteilt nicht, ist nie herablassend
Robert Stadlober hat viele solcher Texte Kurt Tucholskys entdeckt. So kam ihm die Idee, ein paar dieser gerade für unsere Zeit erhellenden Stücke Tucholskys in einem gut hundertseitigen Reader zusammenstellen. Besonders begeistert war Stadlober bei der Auswahl der Texte von Tucholskys "unglaublichem Interesse an jeglichen absurden Verwerfungen des menschlichen Daseins". Gleichzeitig weiß Stadlober zu schätzen, dass Tucholsky nicht urteilt, sondern "wenn, dann eine lange Nase zeigt, aber nicht in einer herablassenden Art".
Satire darf alles
Und noch etwas unterstreicht Stadlober, wenn er über Tucholsky spricht: "Er ist überhaupt nie beleidigt. Das finde ich in unserer Zeit wirklich wichtig, weil ich das Gefühl habe, man ist nur noch von Beleidigten umgeben und man ist ja auch selbst nur noch beleidigt." Damit bezieht sich Stadlober übrigens explizit nicht nur auf die rechte Seite, sondern auch auf die, wie er sagt, "vermeintlich progressive".
Diese Pose moralischer Überlegenheit – gerade auch im eigenen linken Lager – nervte Tucholsky damals genauso wie sie den 41-jährigen Stadlober heute stört. "Es wehte bei uns im öffentlichen Leben ein reinerer Wind, wenn nicht alle übel nähmen", schrieb Tucholsky in seinem gern zitierten Artikel "Was darf die Satire" von 1919. Der berühmteste Satz daraus ist vermutlich: "Satire darf alles."
Stadlober kritisiert, dass dieser Satz heute zu viel und zu schnell verwendet werde – insbesondere von Leuten, die "sehr kurze Antworten auf sehr komplexe Fragen haben". Um dem entgegenzuwirken, empfiehlt der Schauspieler, die zwei Seiten in Tucholskys Text zu lesen, die diesem Satz vorausgehen. "Da geht es nämlich darum, dass die Dinge auf dieser Welt so komplex sind, dass ihnen oft nur mit Satire geantwortet werden kann." Und damit meine Tucholsky genau die mit den zu kurzen Antworten. "Über die muss man sich nämlich lustig machen, und das ist tatsächliche Satire."
Tucholsky-Gedicht noch heute aktuell: "An das Publikum"
Eines der vielen aktuellen Gedichte Tucholskys ist für Stadlober "An das Publikum" von 1931. Darin fragt Tucholsky: "O hochverehrtes Publikum, sag mal: bist du wirklich so dumm" und listet Unternehmer, Direktoren und Verleger auf, die allesamt das Publikum unterschätzen ("Was soll ich machen? Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!"). Dieses Gedicht ist das Gegenteil einer Publikumsbeschimpfung. Vielmehr nimmt es jene aufs Korn, die es beständig unterfordern wollen, so Robert Stadlober.
Mit dieser Haltung gegenüber dem Publikum plagt Stadlober sich schon langen herum, wie er sagt: "Wie oft ist man, ob nun beim Theater, Kino, Fernsehen, in irgendwelchen Runden, wo gesagt wird: Nee, das können wir nicht machen, das versteht ja keiner, da können die Leute nicht folgen." Tragisch sei das, so Stadlober, die Leute seien viel klüger und versierter im Umgang mit Inhalten als die annehmen, die diese Inhalte produzieren. "Das kann man nie genug wiederholen, vielleicht merkt's dann mal einer in der Chefetage, dass man den Menschen auch was zumuten muss sogar, sonst wenden sie sich ab und wenden sich wirklich dümmerem Zeug zu."
"Wenn wir einmal nicht grausam sind, dann glauben wir gleich, wir seien gut" heißt der vom Schauspieler Robert Stadlober herausgegebene Sammelband mit Texten Kurt Tucholskys. Erschienen ist er ist im Berliner Verbrecher Verlag, hat 152 Seiten und kostet 20 Euro.
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