Der russische Präsident blättert in einem Manuskript
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Wladimir Putin am 20. Juli bei einem Besuch in Murmansk

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"Sie spielen mit dem Feuer": Putin verärgert Ultra-Patrioten

Im Sicherheitsrat verlor der russische Präsident die Fassung: Er warf dem Westen vor, den Krieg in die Länge zu ziehen und ging auf Osteuropäer, vor allem die Polen, los. Derweil warnen ihn die eigenen Patrioten vor einer "Katastrophe".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Dass der Kreml über Treffen des Sicherheitsrats berichtet, ist ein relativ neues Phänomen. Offensichtlich wollen die Propagandisten die Gelegenheit nutzen, Putin als entscheidungsfreudigen Macher darzustellen - vor allem jetzt, wo sich innerhalb Russlands nicht wenige Beobachter die Frage stellen, ob der Präsident noch die volle Kontrolle über den Sicherheitsapparat hat. Doch mit seinem jüngsten Auftritt dürfte sich Putin keinen Gefallen getan haben.

Im Gegenteil: Er zeigte, wie "angefressen" er nervlich vom Kriegsverlauf ist und dass sein Realitätsverlust beängstigende Ausmaße angenommen hat. So behauptete er, die "öffentliche Meinung in Europa" verändere sich gerade: "Sowohl die Europäer selbst als auch Vertreter der europäischen Eliten sehen, dass die sogenannte Unterstützung für die Ukraine in Wirklichkeit eine Sackgasse ist, eine leere, endlose Verschwendung von Geld und Mühe, aber in Wirklichkeit dient sie fremden, weit von Europa entfernten Interessen."

Einmal mehr versuchte Putin, einen Keil in den Westen zu treiben und kritisierte die angeblichen amerikanischen "Hegemonie"-Bestrebungen und die Haltung mancher Osteuropäer: "Jetzt ist das Feuer des Krieges heftig entfacht. Sie nutzen hierfür insbesondere die Ambitionen der Führer einiger osteuropäischer Staaten, die den Hass auf Russland und die Russophobie längst zu ihrem wichtigsten Exportprodukt und zu einem Instrument ihrer Innenpolitik gemacht haben."

"Geschenk Stalins an die Polen"

In einem langatmigen historischen Exkurs über "Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts" ging Putin speziell auf die Polen und deren Regierung los. Sie hätten nach dem Ersten Weltkrieg die "Tragödie des russischen Bürgerkriegs" für sich "ausgenutzt". Der Präsident behauptete auch, Polen habe sich 1939 an der "Teilung der Tschechoslowakei" beteiligt. Gemeint ist damit die damalige Besetzung des Gebiets um die Stadt Cieszyn/Teschen durch Polen. Außerdem sei Warschau undankbar: "Gerade dank der Sowjetunion, dank der Position Stalins erhielt Polen bedeutende Ländereien im Westen, die [ehemaligen] Ländereien Deutschlands. Genau so ist es, die westlichen Gebiete des heutigen Polens sind ein Geschenk Stalins an die Polen."

Zuvor hatte der Leiter des russischen Auslandsgeheimdiensts, Sergej Naryschkin, einmal mehr die Hoffnung ausgedrückt, die "Niederlage der Ukraine" möge "nur eine Frage der Zeit" sein. Er widersprach sich jedoch selbst und kritisierte, dass Polen, Litauen und die Ukraine angeblich mit einer "kombinierten Brigade" ihre gemeinsame Schlagkraft weiter erhöhen wollten: "Es scheint uns, dass diese ziemlich gefährlichen Pläne der polnischen Führung sorgfältig überwacht werden sollten."

"Das fügt uns einigen Schaden zu"

Putin behauptete ganz im Stil der regierungsamtlichen Propaganda, die ukrainische Offensive habe "noch" keine militärischen Ergebnisse gezeigt: "Ja, natürlich können westliche Waffen zusätzlich geliefert und in die Schlacht geworfen werden. Das fügt uns natürlich einigen Schaden zu und verlängert den Konflikt." Der Präsident hoffte darauf, dass die Vorräte an "alten sowjetischen Waffen" im Westen "bereits weitgehend erschöpft" seien. Im Übrigen reichten die Produktionskapazitäten nicht, um den Verbrauch der Ukraine an Munition und Ausrüstung "schnell wieder aufzufüllen". Ohne Belege behauptete Putin, die Ukraine habe durch "selbstmörderische Attentate" Zehntausende von Soldaten verloren, ihre Mobilisierungsreserven seien "ausgereizt".

Ärger mit Ultra-Patrioten

Das alles wirkte wie ein verzweifelter Durchhalteappell. Ob Putin seiner eigenen Propaganda wirklich glaubt, falsch informiert wurde oder einmal mehr wissentlich Desinformation verbreitet, sei dahingestellt. Wie auch immer: Putin hat gerade erheblichen Ärger mit den eigenen "Ultra-Patrioten". Einer der bekanntesten Nationalisten und Kreml-Kritiker, Igor Strelkow, wurde nach Angaben von dessen Ehefrau von Sicherheitsleuten abgeführt, dem Vernehmen nach auf Grund einer Anzeige, er kritisiere "offen die Führung des Landes", was den Tatsachen entspricht. Ein Gericht wies Strelkow vorerst bis zum 18. September in eine Untersuchungshaftanstalt ein. Das schlug hohe Wellen im russischen Netz.

Blogger Georgi Fjodorow schrieb dazu: "Das sind sehr schlechte Nachrichten und bedeutet, dass Repressionen nicht nur gegen Mitglieder des Clubs der zornigen Patrioten, sondern auch gegen die gesamte aktive patriotische Gemeinschaft begonnen haben, die offenbar für die oberste Macht gefährlich geworden ist. Wir müssen Strelkow zur Seite stehen und unterstützen, denn das ist erst der Anfang. Nach dem Vorgehen der Ermittlungsbehörden zu urteilen, dürfte der Vorstoß dazu führen, dass er ins Gefängnis kommt. Die Strafverfolgungsbehörden müssen umdenken, denn all das kann katastrophale Folgen haben."

"Was für ein Zirkus"

Fjodorows Kollege Alexander Pelewin äußerte sich ähnlich: "Es kann zu Meinungsverschiedenheiten mit Igor Strelkov kommen, aber die Regierung muss verstehen, dass sie durch solche Maßnahmen noch mehr Zwietracht in der patriotischen Gemeinschaft des kriegführenden Landes sät. Sie reiben sich wieder an der falschen Stelle auf. Natürlich sind wir schon daran gewöhnt, fangen aber immer wieder damit an: Was für ein Zirkus."

Alarmiert ist auch Blogger Sergej Udalzow: "Das Schwungrad der Unterdrückung dreht sich. Aber es wird schwierig sein, all jenen den Mund zu stopfen, die mit der aktuellen Entwicklung des Landes nicht einverstanden sind, die Behörden spielen mit dem Feuer." Der frühere BBC-Journalist Wladimir Dergatschew analysierte: "Mit der Festnahme Strelkows erreichen die Behörden einen wichtigen Meilenstein. Offenbar wurde nach dem Prigoschin-Aufstand und am Vorabend der Präsidentenwahlen [im kommenden März] und möglichen Verhandlungen mit der Ukraine beschlossen, die radikal denkenden Flanken zu säubern. Früher gerieten die Liberalen unter solchen Druck, heute sind es die 'zornigen Patrioten', von denen viele die Regierung nicht weniger hassen als die liberale Opposition. Sie können jedoch eine viel größere Gefahr für das politische Regime darstellen."

Die Festnahme Strelkows werde "nicht nur einen erheblichen Teil der ultrapatriotischen Öffentlichkeit vollständig der Regierung entfremden", meinte ein weiterer Blogger, "sondern diese Gruppe auch vollkommen unkontrollierbar machen". Die Folgen seien "unabsehbar": "Brauchen die Behörden das, insbesondere am Vorabend der Wahlen 2024?" Es wurde auch gemutmaßt, Putin könne "Gesten des guten Willens" planen, also im Ukraine-Krieg irgendwie versuchen einzulenken, wobei ihn radikale Nationalisten stören könnten.

"Viele Menschen sprachlos"

Der kremltreue Parlamentarier Oleg Matwejschew sagte: "In unserem Land waren viele Menschen empört darüber, dass eine Person Extremismus betrieb, die Armee ständig diskreditierte, gegen alle Gesetze verstieß und keine Maßnahmen gegen sie ergriffen wurden. Ist er eine Art Unberührbarer? Ich denke, dass das viele Menschen sprachlos zurückließ, die dachten, dass man alles in den Netzwerken behaupten kann und dass die Urheber nicht dafür belangt werden, dass sie nichts treffen kann."

Die Publizistin Ekaterina Winokurowa schrieb: "Ich frage mich, ob es Proteste geben wird oder nicht (das heißt, ob Strelkows Unterstützer echt sind oder nicht). Ich denke, dass dies ein wichtiges Kriterium dafür sein wird, wie es zukünftig weitergeht."

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