Wer sich auf eine Bühne begibt, will gesehen werden, gehört werden, will Anerkennung. Nur: Zwischen Willen und Verwirklichung liegt ein mühsamer Weg. Die Tanzwerkstatt Europa schaut sich die Crux mit dem Künstlerdasein in diesem Jahr ganz genau an und stellt die Frage: Was ist es wert, Kunst zu machen? Man schindet sich und verdient nicht viel.
Junge Tänzerinnen und Tänzer diskutieren im Theater HochX, stellen Profis aus der Szene Fragen über diesen verschlungenen "Weg zur Bühne". "Wann immer wir Umfragen machen, was denn die Leute lernen wollen, dann sagen sie, sie wollen gerne Bühnenpräsenz lernen. Es gibt aber kein Fach 'Bühnenpräsenz'. Bühnenpräsenz entsteht in der Bewusstheit der Bewegung", sagt Walter Heun, der Veranstalter des Festivals.
Ein getanzter seelischer Scherbenhaufen
Eine, die weiß, wie Bühnenpräsenz geht, ist die Tänzerin Raquel Gualtero. Raquel steht in ihrer Garderobe vor dem Spiegel, malt sich die Lippen pink, schneidet Grimassen und schlüpft raus aus dem Schlabbershirt, rein in einen hautengen Anzug mit psychedelischen Mustern. Gleich startet ihre 45 minütige One-Woman-Show "Panorama".
Die Tanzwerkstatt Europa zeigt neben internationalen 'Performances' auch ein Stück aus "heimischer Produktion": "Shard" von Ceren Oran. Während bei 30 Grad die Leute in der Isar planschen, läuft der Schweiß im Muffatstudio in Strömen. Das Stück, zu Deutsch "Scherbe", zeigt einen getanzten seelischen Scherbenhaufen. Inspiriert wurde die in München lebende Ceren Oran von einem eigenen traumatischen Erlebnis.
Ausdrucksstark mit Händen und Füßen
"Shard" zeigt einen Menschen, geplagt von Ängsten, Schlafproblemen, Einsamkeit, Verzweiflung. Gegen all das wehrt sich die Darstellerin mit Händen und Füßen: "Ich finde Hände und Füße enorm starke Ausdrucksmittel. Das zeigt mir auch meine Arbeit mit Kindern, wenn ich für die choreografiere. Man muss nur eine sich bewegende Hand aus dem Dunklen kommen lassen und sofort gucken alle total aufmerksam!", sagt Ceren Oran.
Ineinander verknotete Hände schützen das Gesicht. Fußsohlen, die einen am liebsten schnell wegtragen wollen und doch den Körper nur wie gelähmt über den Boden schieben: In "Shard" werden Finger und Zehen zu Tentakeln des Seelenzustandes und machen innere Kämpfe und Krämpfe sichtbar.
In Workshops trainieren Profis und Laien
Die Tanzwerkstatt Europa verhandle wichtige Fragen des Menschen, sagt Veranstalter Heun: "Die Geburt, der Tod, der Krieg, wir haben Sehnsucht nach Simplizität, warum haben wir alle Sehnsucht nach Berührung?" Die Tanzwerkstatt ist aber noch etwas: ein Sommercamp.
In Workshops trainieren Profis und Laien bestimmte Skills und Akrobatik, feilen an verschiedenen Stilrichtungen des zeitgenössischen Tanzes. Der Choreograf, Tänzer und Pädagoge Jos Baker kommt aus England. Er geht das Tanzen vor allem physikalisch an. Wie hält man eine Balance, ohne zu umzukippen? "Tanz ist nichts weiter als eine besondere Form, der Schwerkraft entgegenzuwirken. Und ist eigentlich etwas, was alle Menschen dauernd machen! Selbst kleine Kinder tun es."
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