Tagesschau-Sprecher Jan Hofer moderiert zum "Schwabinger Kunstfund"
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Vor genau 10 Jahren brachte ein Focus-Artikel den Fall Gurlitt an die Öffentlichkeit

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Zehn Jahre Fall Gurlitt: Was vom Münchner "Nazi-Schatz" bleibt

Über tausend Kunstwerke, entdeckt in einer Schwabinger Wohnung: Der Fall Gurlitt rüttelte vor genau zehn Jahren die Kunstwelt auf. Der Verdacht, dass es sich um Nazi-Raubkunst handelte, hat sich aber nur bei einem relativ kleinen Teil bewahrheitet.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Am 28. Februar 2012 kam die Münchner Kunsthistorikerin Vanessa Voigt zu einer unvergesslichen Szene in die Wohnung von Cornelius Gurlitt am Artur-Kutscher-Platz in München-Schwabing. Da saß der 79-jährige, kranke Mann an diesem kalten Wintertag am offenen Fenster, während die Zollfahnder im Auftrag der Augsburger Staatsanwaltschaft gerade rund 1.400 Kunstwerke nacheinander aus der Wohnung trugen. "Er war sehr verstört. Was man natürlich auch verstehen muss aufgrund der Situation, wenn auf einmal mehrere Beamte in der Wohnung sind", meint Vanessa Voigt.

Gurlitts Vater gehörte zu Hitlers Kunstbeschaffern

Die Bewahrung der Familien-Kunstsammlung war vorher gewissermaßen der einzige Lebensinhalt von Gurlitt gewesen. Voigt wurde vom Zoll dazu geholt, weil sie seit ihrer Doktorarbeit über das Hannoveraner Kunstsammlerpaar Sprengel auch als Spezialistin für den Kunsthändler Hildebrand Gurlitt gilt, dem Vater von Cornelius, der bis 1945 einer von Hitlers Kunstbeschaffern für das geplante Führermuseum in Linz gewesen war.

Nun schloss sie am 28. Februar 2012 zunächst einmal die Fenster und machte dem alten Mann einen Kaffee. Die Öffentlichkeit erfuhr von der Beschlagnahme erst eineinhalb Jahre später. Am 3. November 2013 schrieb das Magazin "Focus" von einem Nazi-Raubkunstschatz mit einem Gesamtwert von einer Milliarde Euro. "An dieser Meldung war eigentlich gar nichts richtig. Fragt sich natürlich, wie es dazu kommt", so der Kunsthistoriker Stephan Klingen, der am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München auch für die Ausbildung junger Provenienzforscherinnen und -forscher für deutsche Museen zuständig ist. Die Meldung mit dem überhöhten Gesamtwert und der Vermutung über die Nazi-Herkunft der Werke spiegelt aber den Verdacht, den die Staatsanwaltschaft Augsburg 2012 bei der Beschlagnahme vermutlich hegte.

Cornelius Gurlitt fühlte sich zu Unrecht gejagt

Cornelius Gurlitt, der scheue, etwas weltfremde Mann, wurde ab November 2013 von den Medien in seiner Eigentumswohnung in München-Schwabing belagert. Buchautor Maurice Philip Remy sieht Gurlitt, der 2014 schließlich an seiner schweren Herzkrankheit verstorben ist, als tragisches Opfer eines Fehlverhaltens der Justiz – und der Medien: "Er hat lange Zeit überhaupt nicht begriffen, was diese Dutzenden Journalisten von ihm wollten, die vor der Tür standen. Zumal er sich auch im Recht fühlte und nach meiner Ansicht nach auch zu Recht im Recht fühlte und nicht verstanden hat, was man eigentlich von ihm will."

Vorläufiges Fazit: Längst nicht alles Raubkunst

Der ursprüngliche Verdacht auf Steuerhinterziehung und Devisenvergehen seitens der Augsburger Justiz hat sich nach inzwischen zehn Jahren nicht bewahrheitet. Und Nazi-Raubkunst? Von rund 1.600 Kunstwerken aus München und aus Gurlitts Haus in Salzburg, die inzwischen durch Erbschaft dem Kunstmuseum Bern in der Schweiz gehören, wurden bisher genau 14 restituiert, nicht einmal ein Prozent.

Dazu kommen immerhin aber noch ein paar Hundert Verdachtsfälle. Auf einer vorbildlichen Website haben die Berner Forscherinnen alle Werke aufgelistet. Die bereits zurückgegebenen, etwas mehr als ein Dutzend, sind mit einem roten Kreis markiert. Bei vielen zeigt die Ampel grün: Kein Verdacht auf Raubkunst. Und die Mehrzahl zeigt entweder Rot/Gelb oder Gelb/Grün. Ob hier die sehr mühsame Suche nach möglichen geschädigten Vorbesitzern noch irgendwann erfolgreich sein wird, bleibt fraglich. Auch Archive oder Kataloge ohne Fotos geben nur Teilauskünfte. Und der Krieg hat viele Unterlagen vernichtet.

Der "Fall Gurlitt" fördert die Provenienz-Forschung

Man könne die Bedeutung der Sammlung Gurlitt für die Provenienzforschung in Deutschland gar nicht überschätzen, sagt Kunsthistoriker Stephan Klingen: "Durch die große internationale Aufmerksamkeit hat sie einen gewaltigen Schub bekommen, das Bewusstsein für das, was es an Raubkunsttatbeständen gibt und gegeben hat, ist enorm gewachsen." Der "Fall Gurlitt" sorgte dafür, dass an allen deutschen Museen mit größerem Aufwand nach Raubkunst gesucht wird. 2015 wurde das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg gegründet. Die Raubkunst-Taskforce sowie vier Juniorprofessuren für Provenienzforschung wurden geschaffen, davon eine in München. Allerdings sind beziehungsweise waren diese Stellen häufig mit einer zeitlichen Befristung verbunden, so läuft zum Beispiel Anfang 2024 die in München geschaffene Stelle wieder aus. Kunsthistoriker Stephan Klingen kritisiert, dass dadurch nun wieder wichtiges Wissen verloren gehe.

Hörtipp: ARD-Podcast über "Gurlitt Papers": Ein Team des Deutschlandfunks hat sich gerade im Podcast "Tatort Kunst" noch einmal mit den Fehlstellen in der Causa Gurlitt befasst. Der Podcast zeigt anhand von Daten einer geleakten Festplatte die schwerwiegenden Versäumnisse auf, die bei der Aufarbeitung der Gurlitt-Sammlung durch die eingesetzte "Task Force" gemacht wurden.

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