In einem Veranstaltungssaal stehen zwei Menschen, eine Frau hält ein Plakat mit der Geisel Alex Dancyger hoch.
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Aufnahme im Vorfeld der Veranstaltung im "Haus der Wannsee-Konferenz", auf der Yuval Dancyger an seinen Vater erinnert.

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Wie der Sohn einer Hamas-Geisel Hilfe mobilisiert

Unter den etwa 240 Menschen, die die Hamas-Terroristen am 7. Oktober in den Gaza-Streifen verschleppt haben, ist der 77-jährige Historiker Alex Dancyger. Sein Sohn Yuval reist nun durch Europa, um für das Schicksal der Geiseln Hilfe zu mobilisieren.

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Seit über vier Wochen schläft Yuval Dancyger kaum noch. Der 42-jährige Logistikmanager aus Beer Sheva ist in dem Kibbuz Nir Oz aufgewachsen, Vater, Mutter, Geschwister, Onkel, Tanten, Nichten und Neffen hatten dort ihren Lebensmittelpunkt. Am 7. Oktober lebten dort 450 Menschen, am Abend des 8. waren es noch 190. Yuval erwachte an jenem Samstag früh und sah im Fernsehen, dass es an der Gazagrenze einen Angriff gab. Er rief seinen 75-jährigen Vater um 8 Uhr morgens an. Der beruhigte ihn, das seien nur Raketen, das käme schon alles in Ordnung. "Das war unser letztes Gespräch. Danach hat er nicht mehr geantwortet", so Yuval.

"Kommt, rettet uns. Wo ist die Armee?"

Yuvals Vater Alex Dancyger lebte allein in seinem Haus. Er ist schwer herzkrank, jedoch geistig enorm fit. Nach dem Krieg in Polen geboren und jung nach Israel ausgewandert, hatte er sein ganzes Berufsleben als Historiker über den Holocaust geforscht und in Yad Vashem, aber auch weltweit pädagogisch gewirkt. In Nir Oz lebte er eingebettet in die Kibbuzgemeinschaft mit seinen Kindern und Enkeln in unmittelbarer Nähe. Yuval bekam morgens auch eine SMS seiner Schwester. Darin stand: "Kommt, rettet uns. Wo ist die Armee? Wo ist die Polizei? Sie töten alle Kibbuz, alle Leute".

Yuval erzählt diese Geschichte ruhig, stockend, mit langen Pausen. Der kleine Saal im Haus der Wannseekonferenz ist bis auf den letzten Platz besetzt, unter den Gästen Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Petra Pau, Rabbiner Andreas Nachama, Deidre Berger vom Tikvah-Institut und viele andere.

Absolute Stille füllt den Raum, als Yuval die Katastrophe aus seiner Perspektive berichtet. Nach dem Telefonat mit seinem Vater und den SMS mit seiner Schwester hätten sie sehr schlimme sechs Stunden gehabt. Ab und zu hätten sie SMS und WhatsApp getextet, aber ab zwei Uhr habe sich niemand mehr gemeldet, sagt Yuval: "Und so haben wir gesessen und gewartet, dass jemand anruft und sagt, sie sind alle tot oder sie leben noch. Um fünf Uhr nachmittags rief mein Bruder an. Er und seine Familie hätten überlebt, bei den anderen wüsste er es nicht."

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Trauernde in dem von den Hamas-Terroristen überfallenen Kibbuz Nir Oz

Im Bunkerraum verbarrikadiert, bis das Haus brannte

Vom Vater hörte Yuval nichts. Seine Schwester hatte sich mit den drei kleinen Töchtern im Bunkerraum ihres Hauses versteckt, ihr Mann saß mit einem Gewehr davor und wartete. Yuval erzählt diese Geschichte leise, fast tonlos: "Nach einer Stunde sprangen die Terroristen durchs Fenster. Er erschoss den Ersten. Er erschoss den Zweiten. Er erschoss den Dritten. Zwei Stunden hat er gekämpft. Dann merkte er, es sind zu viele. Er verbarrikadierte sich mit seiner Familie im Bunkerraum. Als die Terroristen nach einer halben Stunde die Tür nicht sprengen konnten, legten sie überall im Haus Feuer. Meine Schwester sagte, sie wolle nicht im Rauch ersticken. Sie sprang mit meinen drei kleinen Nichten raus. Genau in dem Moment, als die Armee eintraf und die IDF-Soldaten sie retteten."

Zum Artikel: Ereignisse im Nahost-Konflikt aus KW 45 im Rückblick

Geiseln auf medizinische Hilfe angewiesen

Niemand aus Yuvals Familie wurde ermordet. Yuvals Vater und sein Onkel wurden nach Gaza verschleppt. Eine freigelassene Geisel hatte das bestätigt. Alex Yuval braucht nach seinem Herzinfarkt vor einigen Jahren Medikamente. 25 Geiseln aus Nir Oz sind älter als 75 Jahre. Alle brauchen medizinische Hilfe.

Unter den Zuhörern an diesem Abend ist auch eine Mitarbeiterin der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz, die Alex Yuval gut kennt, weil sie bei ihm an einigen Weiterbildungsseminaren zum Thema "Vermittlung des Holocaust" teilgenommen hat. Anna Rosenhain-Osowska beschreibt Alex als geistreichen, humorvollen Historiker mit Herz und Seele und einem sehr guten Gedächtnis. Er habe viel Chuzpe. "Als gehört haben, er wurde verschleppt, dachten wir: Der wird sich nicht auf der Nase rumtanzen lassen", so Rosenhain-Osowska.

Auf der Suche nach Kontakten in den arabischen Raum

Ob Alex noch lebt, wie es ihm geht, niemand weiß es. Yuval hat in Polen Präsident Andrzej Duda getroffen. Er hat in Italien mit Regierungsvertretern gesprochen. Er hat in Berlin mit dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, geredet, mit der Kulturstaatsministerin und dem Leiter des Krisenreaktionszentrums im Auswärtigen Amt. Er hofft, dass irgendjemand Kontakte nutzen könnte, um die Geiseln nach Hause zu holen. Es geht ihm nicht allein um seinen Vater, das betont er. Und er will mit seiner Geschichte und der seiner Familie aufrütteln, er will sie verbreiten gegen die Gleichgültigkeit, die er nicht bei Politikern, aber in der Bevölkerung europäischer Länder zu spüren meint. Vielleicht ist auch an diesem Abend im Haus der Wannseekonferenz irgendein Gast dabei, so hofft er, der jemanden kennt, der Kontakte hat in den arabischen Raum.

"Die Zeit rennt uns davon"

"Wir haben keine Zeit. Die Zeit rennt uns davon", sagt Yuval. "Sie haben auch ein neun Monate altes Baby mitgenommen. Wie kann es in solch einer Situation überleben?" Schweigen. Yuval kämpft. Er ist dankbar für die Unterstützung, aber er spürt, dass die Möglichkeiten, zu helfen, zu gering sind. Volker Beck, Präsident der deutsch-israelischen Gesellschaft, sieht momentan keinen Weg, um die Situation zu lösen. Er fasst zusammen: "Unsere Schmerzen sind deren Waffen, das macht die Situation so schwierig. Wir können nur hoffen und beten für die Geiseln, dass sie bei guter Gesundheit bald zurückkehren können zu ihren Liebsten."

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