Ruhe und Stille, die braucht Benjamin von Zeit zu Zeit. Als Autist ist er schnell von zu vielen Reizen überfordert. Schon die Schulzeit ist für den heute 34-Jährigen, der in in der Nähe des Hörnle bei Bad Kohlgrub aufwächst, strapaziös. Er merkt, dass er irgendwie anders ist als andere: "Ich tu mich in Bereichen, wo sich die meisten Leute leichttun, schwer, oder eben andersrum", erzählt er. Zum Beispiel fällt es ihm leicht, sich Datenmodelle im Kopf vorzustellen und diese auch abzubilden. Schwer fallen ihm hingegen soziale Kontakte.
"Mit sozialen Kontakten habe ich mich schwergetan"
Damals weiß Benjamin nicht, woran das liegen könnte. Er ist auf der Suche nach seinem eigenen Weg. Seine Gabe zum analytischen Denken bringt ihn nach dem Abitur auf die Idee, Chemie zu studieren. Aber Dinge wie etwa den Stundenplan im Studium selbst zu organisieren, überfordern ihn. Auch Alltägliches, wie Einkaufen gehen, fällt ihm schwer. "Ich war heillos überfordert. Irgendwann habe ich das Studium abgebrochen. Das war eine ziemlich schwierige Zeit und auch eine depressive Phase."
Weil er gerne kocht, versucht es Benjamin mit einer Ausbildung zum Koch. Doch auch hier bricht er ab – zu hoch ist der Stress durch die langen Arbeitszeiten und die Hierarchie in der Küche.
Er ist in ärztlicher Behandlung und erfährt schließlich: Er hat Autismus. "Ich hatte mich schon mit dem Thema beschäftigt, und es war mir auch irgendwie schon klar, dass es Autismus sein könnte." Die Diagnose war für ihn eine Art "offizieller Stempel" und hat ihm geholfen, mit seiner nicht so schönen Jugendzeit abzuschließen.
Trotzdem weiß Benjamin beruflich erst einmal nicht weiter. Privat hingegen hat er ein ungewöhnliches Hobby für sich entdeckt: Höhlenforschen. "Es ist der Reiz der Forschung, etwas Neues zu finden. Außerdem mag ich, dass es ein Sport ist, bei dem es nicht auf den Wettbewerb ankommt. Wir sind im Team unterwegs, um gemeinsam etwas zu erreichen." Beim Höhlenforschen erkennt Benjamin: Auf das Team kommt es an, auf Menschen, die einen annehmen und fördern.
Firma auticon: Nachfrage nach talentierten Autisten ist groß
Er bewirbt sich bei auticon, einer Münchner Firma, die vor allem Autisten beschäftigt. Mit seinem Talent, komplizierte Software-Fragen lösen zu können, hat er schließlich den idealen Arbeitsplatz gefunden. Hier kommt es nicht auf den Uni-Abschluss an, sondern einzig und allein auf sein Können.
Ein weiterer großer Vorteil – niemand stört sich hier an seinen autistischen Zügen. "Den meisten Leuten hilft es schon zu wissen, dass ich Autist bin. Wenn ich mich mal komisch ausdrücke, dann ist das nicht böse gemeint." Das Unternehmen beschäftigt auch Job-Coaches, die den Angestellten zur Seite stehen, wenn es beispielsweise um Kontakte mit Auftraggebern geht oder um die Strukturierung des Arbeitstages.
Analytische und logische Denkfähigkeiten
Die Nachfrage nach den talentierten Autisten ist auf dem Arbeitsmarkt gerade im Software-Bereich stark angestiegen, sagt Dieter Hahn, Geschäftsführer von auticon: "Die hohe Detailgenauigkeit, ein extrem hohes Qualitätsbewusstsein, und auch aufgrund der hohen Mustererkennung finden Autisten sehr schnell Fehler. Die suchen sie nicht, sondern finden sie automatisch."
Benjamin ist beruflich angekommen. Entgegen den Vorurteilen gegenüber Autistinnen und Autisten, sie seien Einzelgänger, mag er vertraute Menschen um sich herum. Und schätzt auch die gemeinsamen Mittagessen in der Firma. "Das Gefühl, nicht anderen ständig zur Last zu fallen, hat mir aus meiner Depression herausgeholfen. Ich habe jetzt ein eigenständiges Leben und kann die Gesellschaft positiv mitgestalten."
Mittlerweile empfindet Benjamin seinen Autismus nicht als Handicap – sondern kann sich ganz auf sein Talent konzentrieren.
Mehr zum Thema "Talent: Mach was draus" in der Sendung STATIONEN in der ARD Mediathek.
Dieser Artikel ist erstmals am 23. März 2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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