Kanarienvogelzüchter war er also auch, dieser Caspar David Friedrich. "Das ist sehr überraschend", sagt Florian Illies im Gespräch, "weil sich nach allen anderen Quellen der Kanarienvogel erst Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete. Friedrich züchtete und zeichnete sie aber bereits Anfang des 19. Jahrhunderts, um 1810, 1820 herum". Das ist nur einer von vielen kuriosen Funden, die dieses Buch des Kunsthistorikers, einstigen Kunsthändlers und Kunstmagazin-Gründers sowie Ausstellungs-Kurators Florian Illies zu einem großen Lesevergnügen machen. Der 52-Jährige nähert sich dem "feinmalerischsten Künstler der deutschen Romantik" und "verschrobenen Spätzünder" Caspar David Friedrich, der bisweilen auch ein "unglaublicher Kindskopf" sein konnte und dem es einfach nicht gegeben war, Menschen zu malen, keineswegs huldvoll-ehrfürchtig, sondern mit der ihm eigenen Nonchalance.
Ein Liebesbrief wird zum Buch
2015 hatte Illies bereits einen zweiseitigen "Liebesbrief" an jenen Maler veröffentlicht, dem er nun eine auch an leiser Kritik nicht sparende Liebeserklärung in Form eines ganzen Buches nachfolgen lässt. "Sie haben aus Ihrer bodenlosen Melancholie heraus Bilder geschaffen, die uns bis heute erzählen von der schmerzhaft schönen Sehnsucht nach dem Glück", so adressierte Illies seinerzeit den "großen Meister" Caspar David Friedrich.
Es war keine Liebe auf den ersten Blick. "Das war ein langer Weg, weil ich zunächst einmal in mir einen großen Trotz spürte", so Illies: "Das ist so wie mit Goethe oder Bach. Man hat das Gefühl, als ordentlicher Deutscher hat man den zu lieben. Der gehört zum Bildungskanon dazu, und auch zum Verehrungskanon. Dagegen habe ich mich unglaublich lange gewehrt. Aber dann irgendwann war ich ihm doch erlegen und habe gemerkt: Jeder Widerstand ist zwecklos." Solche Himmel, findet Illies, hat nur Caspar David Friedrich gemalt. Und mit seiner spät erwachten Liebe zum "himmlischen Caspar David Friedrich", wie ihn Thomas Mann in "Lotte in Weimar" einmal nennt, ist es Florian Illies "himmelernst".
Goethe gefiel sein Trübsinn nicht
Caspar David Friedrich war selbst ein großer Liebender, der aber im Falle des von ihm zutiefst bewunderten Johann Wolfgang von Goethe auf keine große Gegenliebe stieß. Er korrespondierte mit dem Dichterfürsten, bewarb sich auch mal um einen Preis, den Goethe in Weimar ausgelobt hatte, bekam den auch, aber Goethe versagte ihm dennoch die Anerkennung, um die Friedrich wieder und wieder bettelte bei ihm. Man kann sagen: Goethe hat ihn regelrecht verkannt: "Die Melancholie, die Sehnsuchtsmalerei, die wir bei Friedrich heute lieben, behagte Goethe überhaupt nicht. Sie hat ihn wahnsinnig gemacht. Es gibt eine Briefstelle, in der er schreibt, er könne diese Wut auf Friedrich kaum noch kontrollieren, er hätte sogar einmal ein Bild von ihm an der Tischkante zerschlagen. Goethe wollte, dass die Kunst den Menschen Antworten gibt. Friedrich wusste, dass die Kunst nur Fragen stellen kann."
Das Atelier als Taubenschlag großer Künstler
Immerhin: Goethe besuchte ihn einmal in seinem Dresdner Atelier "An der Elbe 33". Erstaunlich, wer alles da in seinem peinlich reinlich gehaltenen Studio vorbeikam und sich die Klinke in die Hand gab: Alexander Turgenjew war zu Besuch, ebenso Heinrich von Kleist. Beide hatten offenbar besser als Goethe Friedrichs Größe erkannt. Illies schreibt, bei Friedrich sei eigentlich immer "Tag der offenen Tür" gewesen. Mit einer Ausnahme: Wenn der "fromme Friedrich" an seiner Staffelei den Himmel malte, durfte ihn auch seine Familie nicht stören. Seine Frau Caroline überliefert den Satz: "Himmel malen ist Gottesdienst."
Illies gelingt es, in der aus früheren Büchern bekannten und bewährten kurzweilig-sprunghaften Kaleidoskop-Technik zahlreiche aufschlussreiche Einblicke in Friedrichs Leben zu geben, ohne sich an einer ja doch meist ermüdenden Chronologie der Lebensereignisse entlanghangeln zu müssen. Lieber gliedert er sein Buch auf durchaus sinnfällige Art und Weise in vier Kapitel nach den Elementen Feuer, Wasser, Erde, Luft.
Jahrzehntelang war er in Deutschland vergessen
Das Buch heißt nicht umsonst im Untertitel "Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten", denn es behandelt immer wieder die Rezeptionsgeschichte dieses Künstlers. Schon zu Lebzeiten geriet er in Vergessenheit. Als er 1840 stirbt, verschwinden die wenigen Werke, die bisher in Museen hingen, von der Bildfläche. Sie wandern in die Depots oder überwintern unerkannt in Schlössern oder einem niedersächsischen Beamtenerholungsheim. Seine Gemälde werden fälschlicherweise anderen Malern wie etwa Carl Blechen zugeschrieben (was auch damit zusammenhängt, dass Friedrich nie eines seiner Bilder signierte). Niemand kennt und nennt seinen Namen mehr, bevor er dann Anfang des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt wird - ausgerechnet durch einen Norweger, den Kunstkritiker Andreas Aubert.
Darin liegt keine geringe Ironie, verband Friedrich, der in Kopenhagen studiert hatte, doch zeitlebens eine innige Freundschaft mit einem norwegischen Maler: Johan Christian Clausen Dahl wohnte sogar jahrelang im selben Dresdner Haus wie Friedrich. Erst lange nach Friedrichs Tod beginnt man seine Einzigartigkeit wahrzunehmen. Eine besonders schöne Anekdote spart Florian Illies nicht aus: Die späterhin berühmte Fotografin Gisèle Freund schläft in ihrem Kinderzimmer unter keinem anderen Gemälde als den "Kreidefelsen auf Rügen". Ihr Vater, der Kunstsammler Julius Freund, hatte es erworben und seiner Tochter lieber übers Bett als in den Salon gehängt. So konnte Gisèle Freund später voller Stolz sagen, was sonst niemand behaupten konnte: "Ich bin unter den Kreidefelsen von Rügen aufgewachsen."
Walt Disney war von ihm fasziniert
Samuel Beckett wurde von ihm genauso beeinflusst wie die Film-Regisseure Leni Riefenstahl und Friedrich Wilhelm Murnau. Selbst der amerikanische Trickfilmzeichner Walt Disney studierte Caspar David Friedrichs Gemälde in der großen Romantik-Ausstellung im Münchner Glaspalast (der mitsamt den Gemälden 1931 niederbrannte) - und ließ Bambi durch Landschaften hoppeln, die verdächtig dem von Friedrich gemalten Erzgebirge, seiner Sächsischen Schweiz oder sogar der von ihm gemalten Ostsee ähneln.
Florian Illies' kundiges und lustvolles Aufspüren solcher motivischen Bezüge sorgt für einen ungeheuren Lesespaß. Nicht zuletzt klärt er das Rätsel auf, weshalb eigentlich alle Figuren Friedrichs - sei es sein "Wanderer über dem Nebelmeer", sei es seine "Frau am Fenster", sei es das Paar auf dem Gemälde "Auf dem Segler", welches das Cover seines Buches ziert - dem Betrachter den Rücken zuwendet. Der Grund ist denkbar simpel: Caspar David Friedrichs "Ungeschicklichkeit im Malen von Menschen" war legendär. Die Proportionen missrieten ihm, von den Gesichtszügen ganz zu schweigen. So malte er alle Figuren lieber von hinten. "Er macht aus seiner Schwäche seine allergrößte Stärke", so Illies, "er bedient sich eines Tricks: Er dreht die Figuren einfach um. Er muss nur noch ihren Mantel zeigen oder ihren Hut, ihre schwarze Silhouette, sodass niemand sich mehr über seine unzureichende Menschenzeichnung mokieren kann."
Der Trick Caspar David Friedrichs ist für Illies gleichzeitig Ausweis seiner Genialität: "Weil da dieser Mönch am Meer steht, können wir als Betrachter ins Bild hineinsteigen. Wir können uns quasi den Mantel dieser Rückenfigur umlegen und mit diesen Figuren aufs Meer gucken. Das ist ein singulärer Kniff, um uns in seine Bilder hereinzuholen."
Räuberpistolen inklusive
Eines von Caspar David Friedrichs Gemälden, "Nebelschwaden", wurde 1994 aus der Frankfurter Kunsthalle Schirn gestohlen worden und lagerte zeitweise zwischen Autoreifen, bis es dann Jahre später auf verschlungenen Wegen wieder auftauchte. Eine echte "Räuberpistole", von der Illies ebenso kenntnisreich zu berichten weiß wie von der Odyssee, ja "Hafenrundfahrt" seiner traumverlorenen Greifswalder Hafenansicht. Man wünscht dem Autor, dass diese Art der höchst lebendigen, spannenden Kunstgeschichtsschreibung viele Leser finden wird. Am 7. November erhält Florian Illies in der Münchner Allerheiligenhofkirche den Ehrenpreis des bayerischen Ministerpräsidenten beim Bayerischen Buchpreis 2023.
Florian Illies: "Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten" erschienen bei S. Fischer
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