Ein Bild so skurril wie ikonisch: Torschütze Thomas Helmer ärgert sich nach seinem Treffer zum 1:0 für den FC Bayern München gegen den 1. FC Nürnberg. Auch die Zuschauer schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. FCN-Torhüter und Nationalmannschaftskollege Andreas Köpke muntert Helmer gerade auf, da brandet doch noch ungläubiger Jubel im weiten Rund des Olympiastadions auf. Obwohl der Ball nicht im Netz zappelt oder zumindest hinter der Torlinie liegt, zeigt Schiedsrichter Hans-Joachim Osmers zur Mittellinie.
Während sich die Anwesenden vor Ort noch über die Entscheidung wunderten, bekamen die Zuschauer am Fernseher den glasklaren Beweis geliefert: Der Ball war nicht im Tor, er ging eindeutig vorbei. Helmer hatte nach einer Ecke das Kunststück fertiggebracht, die Kugel, die sich bereits auf dem Weg ins Tor befand, aus wenigen Zentimetern noch um den linken Nürnberger Torpfosten zu spitzeln.
Helmers Fehlschuss löst Kontroverse aus
Doch mindestens zwei Menschen, zwei sehr entscheidende Menschen, hatten offenbar eine andere Wahrnehmung: Linienrichter Jörg Jablonski hatte sofort die Fahne gehoben, Haupt-Schiedsrichter Osmers folgte dieser Einschätzung und entschied auf Tor. Eine folgenreiche Entscheidung: Abwehrspieler Helmer traf an jenem 23. April 1994 beflügelt von seinem ersten Treffer noch ein zweites Mal und schnürte den Doppelpack zum Sieg. Der Anschlusstreffer für die damals akut abstiegsbedrohten Nürnberger vom Schweizer Alain Sutter kam zu spät, Bayern gewann mit 2:1.
Im Nachhinein geriet der DFB in Erklärungsnot und entschied sich dazu, das Tor (und das gesamte Spiel) für ungültig zu erklären. Eine Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters ist zwar grundsätzlich nicht revidierbar, doch diese lag laut DFB nicht vor. Schiedsrichter Osmers habe auf die gehobene Fahne von Jablonski reagiert, diese sollte jedoch gar nicht darauf hinweisen, dass ein Tor gefallen ist, sondern habe sich auf eine vorangegangene Spielsituation bezogen.
Phantom-Tor: Ein Gewinner, mehrere Verlierer
So wurde ein Wiederholungsspiel für den 3. Mai anberaumt. Dieses gewann der FC Bayern deutlich mit 5:0 und feierte nur vier Tage später die Meisterschaft. Nürnberg stieg am selben Tag in die 2. Bundesliga ab. Für Osmers und Jablonski begann mit ihrer Fehlentscheidung eine sehr belastende Zeit. Jablonski berichtete später, dass er Anfeindungen und Morddrohungen erhielt. "Ich bin meiner Familie sehr dankbar", sagte Jablonski in einem DFB-Interview: "Sie hat mich aufgefangen und mir Halt gegeben. Das alles war damals nicht leicht für mich."
Fehler als Initialzündung: Sohn wird Bundesliga-Schiri
Etwas Gutes hatte das Ganze jedoch: Jörg Jablonskis Sohn Sven, zum Zeitpunkt des Phantomtores vier Jahre alt, wuchs ebenfalls mit den Diskussionen rund um die Szene am 23. April 1994 auf. Im Teenager-Alter wollte er dann von seinem Vater wissen, wie es dazu kommen konnte, und arbeitete sich selbst in das Schiedsrichter-Wesen ein. Mit gerade einmal 27 Jahren debütierte Jablonski junior dann in der Bundesliga und ist seitdem Teil der deutschen Elite-Schiedsrichter. Nicht verwandt sind dagegen der heutige Bundesliga-Schiedsrichter Harm Osmers und Phantomtor-Schiri Hans-Joachim Osmers, obwohl beide in Bremen geboren sind.
Was bleibt, ist die endgültige Schuldfrage und die Frage, warum niemand der beteiligten Spieler, allen voran Thomas Helmer, eingriff. Bei einem ähnlichen Fall im Jahr 1981 hatte Arne Larsen Ökland das kurz vor Schluss vermeintliche 4:0 für Bayer 04 Leverkusen gegen den FC Bayern erzielt. Doch der Norweger sagte dem Schiedsrichter, dass der Ball nicht drin war, sondern von der hinteren Torstange gegen das Außennetz geflogen war.
Mysterium Phantomtor: Hat Helmer gelogen?
Auch Hans-Joachim Osmers erzählt die Geschichte so, dass er Helmer nach dessen Aktion gefragt habe, ob der Ball ins Tor gegangen sei. Dies soll der Bayern-Star bejaht haben. Doch Helmer bestritt die Behauptung von Osmers stets. So bleibt das Phantom-Tor ein Mythos, der wohl nie endgültig aufgeklärt werden wird.
Phantomtor live: Die Radioreportage aus dem Jahr 1994
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