Der Himmel über München ist grau, die Wolken spucken eine Mischung aus Nieselregen, Graupel und Schnee auf den Boden. Die Eisbachwelle macht ihrem Namen an diesem nasskalten April-Tag alle Ehre. Und dennoch sind wieder einige Surfer in den Fluten unterwegs. Am Ufer beobachten Camilla Kemp und Tim Elter das Treiben, sie sind zwei waschechte Surfer: Braungebrannt, sonnenblondiert und mit einem breiten weißen Lächeln im Gesicht. Ins eiskalte Wasser gehen sie nicht, stattdessen strahlen sie um die Wette.
Olympia-Welle wird entweder "Hölle oder Paradies"
Denn die Beiden fahren zu Olympia nach Paris, oder viel mehr ans andere Ende der Welt nach Tahiti. Dort, mitten im Pazifik, in einer der legendärsten Wellen des Planeten, kämpfen die besten Surfer der Welt Ende Juli um olympische Medaillen. "Diese Welle ist entweder Hölle oder Paradies", beschreibt Camilla Kemp im exklusiven BR24Sport-Interview "das Monster Teahupo'o". Die wagemutigen Athleten stürzen sich in eine drei Meter hohe Welle, die mit einem Gewicht von über einer Tonne darauf wartet, ihre Dompteure aufzufressen.
Doch bei allem Respekt vor dem pazifischen Ungetüm ist Elters und Kemps Vorfreude auf das Abenteuer Olympia nicht zu bremsen. Ihre Qualifikation vor sieben Wochen bei den Weltmeisterschaften in Puerto Rico gleicht einem Surf-Märchen, vor allem im Fall von Tim Elter. Der 20-Jährige sollte eigentlich erst für die Spiele in Los Angeles 2028 oder Brisbane 2032 behutsam aufgebaut werden. Doch es kam anders.
Ein Nobody surft sein Herz heraus
Weil sich ein Teamkollege verletzte, durfte Ersatzmann Elter kurzfristig und ohne große Vorbereitung bei der WM ran. Doch der Wettkampf wurde zur Nervenschlacht. Über 100.000 Menschen verfolgten das Spektakel insgesamt am Strand von Arecibo, weitere 100.000 Fans schauten täglich im Livestream zu.
Die Riesenkulisse und die hochklassige Konkurrenz habe Elter zunächst "sehr beeinflusst, ich hab nicht gut performt." Entsprechend schied er aus der Hauptrunde aus und musste von da an über zahlreiche "Repechage Rounds" (Hoffnungsrunden) um seinen Olympia-Traum kämpfen. In Runde sechs setzte er sich erst in letzter Sekunde gegen den portugiesischen Starsurfer Frederico Morais durch. "Da habe ich komplett mein Herz rausgesurft", erzählt Elter, als ob er noch immer im karibischen Wasser sitzt.
Tränen am Strand - Elter gelingt Sensation
Am zweiten und entscheidenden Wettkampftag habe er "nichts getrunken, nichts gegessen. Ich war extrem nervös. Meine Schultern hingen komplett in meinem Nacken." Doch auf dem Wasser fand Elter wieder zu sich und bekam noch am Strand sein Olympia-Ticket überreicht.
"Mein Team und ich sind alle absolut ausgerastet. Dann wurde ich mit Presse überrumpelt und erst als ich Martin (Walz) umarmt habe, da habe ich geweint. Es ist jetzt sieben Wochen her und es fällt mir immer noch sehr schwer zu realisieren, dass ich es bei meiner ersten WM geschafft habe und als jüngster Surfer auf der Männerseite zu Olympia fahre." - Tim Elter im BR24Sport-Interview
"Surf-Familie" formt Elter zum Modellathleten
Eine feste Säule in Elters Leben ist Martin Walz. Der Sportpsychologe aus München ist Elters "zweiter Vater", kümmert sich fast das gesamte Jahr mit "Mutter" und Nationaltrainer Didier Piter um ihn und Camilla Kemp. Als Elter ins deutsche Team aufgenommen wurde, war er ein schlaksiger Teenager, "der nicht einmal in seinen Neoprenanzug gepasst hat", erzählt Walz im Gespräch mit BR24Sport. Für Olympia hat Elter satte sieben Kilogramm an Muskelmasse draufgepackt, dazu kommt seine unerreichte Armspannweite von 2,06 Metern. Die gefürchtete Welle von Teahupo'o kommt ihm gerade recht.
Aufgewachsen auf der Kanaren-Insel Fuerteventura "bin ich schon sehr früh in die heftigeren Wellen gestartet und habe mich da schon immer sehr wohl gefühlt. Ich liebe den Adrenalinkick." Je größer die "Tubes" (die Röhren) der Olympia-Welle Ende Juli sein werden, desto besser: "Ich glaube, dass mir die Welle sehr entgegenkommt. Ich habe ein sehr gutes Gefühl und glaube, dass ich eine gute Chance auf eine Medaille habe."
Heftige Stürze in Tahiti als Brustlöser
Ebenso euphorisch, aber deutlich vorsichtiger blickt Camilla Kemp auf die Olympischen Spiele: "Direkt nach meiner Olympia-Quali war die Angst da: Okay, jetzt muss ich nach Teahupo'o und diese Welle ausprobieren." Gemeinsam mit Elter hat sie vor einer Woche den berühmten Surfspot zum ersten Mal erkundet und bekam die Wucht der Welle sofort zu spüren: "Ich bin über das Riff gespült worden, bin mit dem Kopf auf das Riff geknallt, wurde super lange unter Wasser gedrückt. Zum Glück hatte ich meinen Helm auf."
Solch heftige "Wipe Outs" (Stürze) gehören zum Mythos Tahiti dazu. Kemp hat die Erfahrungen genutzt, um einen Umgang mit ihrer Angst zu finden: "Das Schlimmste ist schon passiert. Jetzt freue ich mich auf die schönen Momente in Tahiti." Für ihr großes Karriere-Highlight will sie sich ihren Underdog-Status zu nutze machen: "Ich bin gut, wenn ich von hinten komme und mich hochsurfe. Ich möchte auf jeden Fall eine Medaille für Deutschland holen."
Youngster Elter "wie ein kleiner 'großer' Bruder"
Die 28-Jährige, die in Portugal aufgewachsen ist, hatte sich bereits einen Tag vor Elter bei der WM für Tahiti qualifiziert und am nächsten Tag gemeinsam mit ihm gejubelt. "Timmy ist eigentlich wie ein kleiner Bruder für mich. Ein kleiner ‘großer’ Bruder", sagt die zwei Köpfe kleinere Kemp über Elter, mit dem sie fast das ganze Jahr zusammen unterwegs ist: "Es war schön, die Zeit mit ihm auf Tahiti zu verbringen und ich glaube, dass er mir mit seiner Erfahrung helfen konnte. Es ist schön, das nicht alleine zu machen und dass man jemanden hat, der durch dieselben Sachen durchgeht."
In ihrem Leben musste Camilla Kemp schon oft große Widerstände bekämpfen. Mit zwölf Jahren begann sie ihrem Bruder im Surfen nachzueifern und fand dabei ihre große Leidenschaft. Als weiße, blonde Frau hatte sie jedoch in der portugiesischen Surf-Szene Probleme, ihren Platz zu finden. Erst der Wechsel ins deutsche Team im Jahr 2020 wurde für sie zum Gamechanger: "Ich glaube, dass alles, was ich durchgemacht habe, mich zu diesem Moment gebracht hat und ich mir deswegen auch die Olympia-Qualifikation geholt habe."
Im deutschen Surf-Team ist der unbändige Zusammenhalt die Maximie für den Erfolg, es ist "die Essenz unseres Nationalteams", sagt Elter: "Ich weiß, dass die anderen Nationen sehr großen Respekt vor uns haben durch unsere Familien-Einheit." Nun ist die kleine Surf-Nation Deutschland dank Kemp und Elter in doppelter Stärke beim größten Wettkampf der Welt am Start. Grund genug für Elter, angriffslustig ins Abenteuer Tahiti zu gehen: "Ich hoffe auf eine Medaille und wenn möglich Gold. Alles ist möglich, vor allem im Surfen."
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