Noch nie haben die deutschen Schüler so schlecht bei einem Pisa-Test abgeschnitten. Bayerns Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) antwortet jetzt mit der "Pisa-Offensive" und will damit die Basiskompetenzen der Kinder durch mehr Deutsch- und Mathematikunterricht stärken.
Doch dafür müssen die Grundschulen Platz im Stundenplan freiräumen. Das könnte weniger Musik, Kunst und Werken bedeuten – aber auch beim Englischunterricht kann gekürzt werden. Der Bildungsforscher Manfred Prenzel, der die Pisa-Studie in den Jahren 2003, 2006 und 2012 geleitet hat, sieht das kritisch.
Pisa-Erfolge bis 2012
Seit der Jahrtausendwende testet die Pisa-Studie die Kompetenzen der 15-Jährigen in den OECD-Ländern. Bis 2012 verbesserten sich die deutschen Jugendlichen deutlich. "Nach 2000 gab es eine ganze Reihe von Initiativen, die sehr gut gegriffen haben. Zum Beispiel die Einführung von Bildungsstandards und auch ein geteiltes Problembewusstsein bei den Lehrkräften, dass man dazu beitragen muss, damit sich die Leistungen verbessern", berichtet Prenzel. Auch Schülerinnen und Schülern aus sozioökonomisch schwächeren Elternhäusern schnitten immer besser ab: "Sie haben erhebliche Fortschritte gemacht, auch im Vergleich zu Kindern aus bessergestellten Elternhäusern".
Doch seit Mitte der 10er-Jahre zeigen die PISA-Studien einen Leistungsrückgang. Zwischen 2018 und 2022 nahmen besonders die mathematischen Kenntnisse ab. Grund dafür seien allerdings nicht nur die coronabedingten Schulschließungen, so Prenzel: "Ab 2012 hat man bestimmte Probleme nicht mehr so ernst genommen. Der Unterricht war einförmig angelegt und nur bedingt geeignet, schwächere Schülerinnen und Schüler zu fördern".
Prenzel hält Pisa-Offensive für "brachialen Lösungsversuch"
Die Pisa-Offensive der bayrischen Kultusministerin sieht Prenzel jedoch kritisch: "Ich halte es für einen brachialen Lösungsversuch, mit mehr Unterrichtsstunden die Kompetenzen verbessern zu wollen". Die möglichen Kürzungen der kreativen Fächer in den Grundschulen lehnt er ab. "Gerade für die gestalterischen Fähigkeiten, die wir im Ingenieur- und Technikbereich brauchen, sind diese Fächer essenziell", so der Bildungsforscher. Auch die zusätzlichen Fortbildungen für Lehrkräfte, die die "Pisa-Offensive" vorsieht, reichen seiner Meinung nach nicht aus: "Wir wissen, dass die zentralen Fortbildungen nur bedingt wirksam sind. Es braucht schulnahe, schulinterne Qualitätsentwicklung".
Pisa-Spitzenreiter zeigen, wie es geht
Wie eine erfolgreiche Zusammenarbeit in Schulen aussehen kann, weiß kaum einer so gut wie Alexander Brand. Der gebürtige Dachauer hat nach seinem Lehramtsstudium die Länder bereist, die in der Pisa-Studie am besten abschneiden. Er war in Finnland, Estland, Japan und Singapur und wollte wissen, "wie die Realität vor Ort ist, was wir von diesen Systemen abschauen können und was vielleicht auch nicht".
In Japan sorgt beispielsweise das 'Growth Mindset' für bleibende Motivation, selbst bei Misserfolgen. Die Schülerinnen und Schüler lernen, dass Erfolg nicht von angeborenem Talent abhängt, sondern von der eigenen Anstrengung, so Brand: "Das sieht man an den kleinen Dingen: Wenn man sich vor einer Prüfung nicht 'Viel Glück' wünscht, sondern sagt 'Gib dein Bestes'". So vermitteln die Lehrkräfte ein dynamisches Selbstbild.
Auch bei klasseninternen Leistungsunterschieden gibt es eine andere Herangehensweise. "In Deutschland ist es oft so, dass wir die Anforderungen für diejenigen, die langsamer lernen, herabsetzen. Viele Länder, die ich besucht habe, halten aber die Anforderung an alle Schülerinnen und Schüler gleich hoch. Was variiert, ist der Grad der Unterstützung", berichtet Brand, der als Lehrer an einer Hamburger Stadtteilschule und als Redakteur für das Deutsche Schulportal arbeitet.
Kleingruppenförderung in Singapur
Individuelle Unterstützung erhalten die Kinder auch in Singapur. Hier werden alle Kinder zur Einschulung in die Grundschule getestet. So stellen die Lehrkräfte fest, auf welchem Stand sie sich befinden. "Wenn Nachholbedarf besteht, erhalten diese Schülerinnen und Schüler zusätzlich zum regulären Unterricht mehrmals wöchentlich von einer spezialisierten Lehrkraft Förderung in einer Kleingruppe", berichtet Brand. So seien leistungsschwächere Kinder nicht auf außerschulische Nachhilfe angewiesen – und das sei gut so: "Es ist ein Gerechtigkeitsproblem, wenn sich manche Familien Nachhilfe leisten können, andere aber nicht".
In Singapur wird Unterrichtsentwicklung im Team großgeschrieben. Wöchentlich treffen sich die Lehrkräfte schulintern, diskutieren und arbeiten gemeinsam an ihrem Unterricht. "In diesen professionellen Lerngemeinschaften werden Lehrkräfte zu Lernenden", beschreibt Brand.
Estland: der Musterschüler in Sachen Digitalisierung
Estland wiederum gilt als Digitalisierungsvorreiter. In der Schule entlastet die Technik die Lehrkräfte bei der Verwaltung und das schafft mehr Zeit für Qualität, Austausch und Unterrichtsentwicklung. Auch im Unterricht nutzen die Lehrkräfte in Estland die digitalen Medien. Beispielsweise zum spielerischen Einüben grundlegender Kompetenzen. Aber nicht alles läuft rund: "Lehrkräfte in Estland werden ziemlich schlecht bezahlt. Dadurch kämpft das Land mit einem großen Lehrkräftemangel. Ein gutes Gehalt ist eine Voraussetzung, aber – wir sehen es in Deutschland – allein nicht ausreichend, um einen Beruf attraktiv zu machen".
Kritischer Blick auf Bayern
Die aktuelle Pisa-Offensive in Bayern sieht auch Brand kritisch: "Mehr vom Gleichen bringt wahrscheinlich nicht viel. Man muss auf die Qualität schauen und den Lehrkräften Zeit geben, um guten Unterricht zu machen". Denn darin sind sich Bildungsforscher Manfred Prenzel und Alexander Brand einig: Gute Schule braucht Zeit, aber nicht unbedingt mehr Deutsch und Mathematik.
Über diese und andere Fragen diskutieren bei "jetzt red i" Bürgerinnen und Bürger live u.a. mit Bayerns Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) und Simone Strohmayr (SPD), bildungspolitische Sprecherin der Landtagsfraktion. Ihre Meinung ist gefragt.
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