Die "Ära Tuchel" beim FC Bayern ist vorbei, noch bevor sie zu einer echten Ära werden konnte. Keine elf Monate nach seiner Vertragsunterschrift in München ist das Ende der Zusammenarbeit schon besiegelt. Beide Seiten, so wirken die Aussagen der Beteiligten, sind sich einig, dass die Entscheidung damals ein Fehler war. Am Ende waren die Widrigkeiten zu groß, damit Tuchel Erfolg haben würde.
Schon Tuchels Einstand stand unter keinem guten Stern
Die Nebengeräusche, die die ersten Tage von Thomas Tuchel beim FC Bayern begleiteten, waren so schrill, so dauerhaft, dass man mitunter das Gefühl bekam, dass die Verpflichtung des damals 49-Jährigen eigentlich die Nebensache war.
Julian Nagelsmann war gerade auf unschönste Art und Weise entlassen worden und die Verantwortlichen hatten ihre große Mühe, das Geschehene zu erklären. Die sportlichen Ziele seien in Gefahr gewesen, argumentierte damals Hasan Salihamidzic, der mittlerweile ebenso zur Vergangenheit des FC Bayern gehört wie Nagelsmann.
Eine titellose Saison sollte damals mit aller Macht verhindert werden. Mit Thomas Tuchel gelang den Münchnern die Verpflichtung eines der besten Trainer der Welt. Im Umgang mit Stars erfahren, hochdekoriert, eigentlich wie geschaffen für den Trainerposten beim FC Bayern München.
Und doch waberte über der Personalie Tuchel schon eine Vorahnung, dass Tuchel und die Führungsetage des FC Bayern nicht unbedingt eine harmonische Ehe führen würde. Der Trainer war schon damals bekannt dafür, ehrlich auf Fragen zu antworten. Die Chefs beim FC Bayern ihrerseits, dass sie Kritik an sich selbst oft als Majestätsbeleidigung verstehen.
Kahn und Salihamidzic - Die Architekten des Tuchel-Deals müssen gehen
Doch solche Bedenken wischte man bei Tuchels Ankunft noch genervt beiseite. Und tatsächlich verlief die Beziehung trotz oder gerade wegen der turbulenten Zeit im Verein harmonisch. Aus im Pokal, Aus in der Champions League, die Meisterschaft sicherte sich der FC Bayern quasi in letzter Minute – zu einem Zeitpunkt, als der Verein die Entlassungen von Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic bereits beschlossen hatte. Die Architekten des großen Tuchel-Coups mussten gehen, auch weil der erhoffte kurzfristige Erfolg ausblieb. Doch der Trainer selbst blieb von der Kritik verschont.
"Auf Kante genäht" und "unkluge Äußerungen"
Das sollte sich im Sommer schlagartig ändern. Tuchel hatte sich öffentlich unzufrieden mit dem Kader gezeigt, forderte Neuzugänge, zählte etablierte Spieler wie Kimmich und Goretzka an und setzte somit die Führungsetage unter Druck, was nicht besonders gut ankam. Und schon gar nicht, dass Tuchel seine Kritik nach einer Transferphase, in der zwar Harry Kane im Sommer kam, aber die Verteidigung nach einem Verkaufsrausch ziemlich dünn besetzt daherkam und auch Tuchels Wunsch nach einem defensiv-denkenden Sechser nicht erfüllt wurde.
Der Kader sei "auf Kante genäht", sagte Tuchel und erntete Empörung. "Unkluge Äußerungen", attestierte Hoeneß dem Coach und Sportvorstand Jan-Christian Dreesen riet Tuchel, er solle nun kreativ werden, schließlich sei das sein Job. Die Misstöne aus der Sommerpause sollten Auswirkungen auf die gesamte Saison haben.
Trotz Verletzungspech: FC Bayern startet gut in die Saison
Die folgende Verletzungsmisere sollte tatsächlich dem Trainer alle Kreativität abverlangen, die er aufzubieten hatte. Manuel Neuer, Matthijs De Ligt, Raphaël Guerreiro, Noussair Mazraoui, Bouna Sarr, Jamal Musiala, Dayot Upamecano, Kingsley Coman, Serge Gnabry, Leon Goretzka, Daniel Peretz, Tarek Buchann, Joshua Kimmich und Konrad Laimer: 15 der 26 Spieler im FC-Bayern-Kader haben in dieser Saison verletzungsbedingt mindestens vier Spiele verpasst.
Doch auch so ließ sich das blamable Pokal-Aus gegen den 1. FC Saarbrücken nicht erklären. In der Liga und der Champions League lief bis zur Winterpause alles nach Plan.
Einzig ein furioses Bayer Leverkusen, das den Münchnern trotz guter Punkteausbeute Platz eins in der Tabelle streitig machte, wiederkehrende Patzer im Aufbauspiel und der Dauerstreit mit TV-Experten Didi Hamann und Lothar Matthäus waren den Münchnern zur Saisonhalbzeit ein Dorn im Auge. Dennoch: Harmonisch war es beim FC Bayern eigentlich nie. Schon gar nicht nach der Winterpause.
Nach der Winterpause folgte der Einbruch
Die Wintertransfers Eric Dier, Bryan Zaragoza und Sascha Boey, der sich direkt verletzte, hatten nicht ganz die erhoffte Qualität, um die Schwächen im Kader auszugleichen. Zudem lief im neuen Jahr die Tormaschine Harry Kane nicht mehr so hochtourig wie noch vor der Winterpause. Kane traf "nur" noch in jedem zweiten Spiel und so wurden die Schwächen im Münchner Angriffsspiel schonungslos aufgedeckt.
Die Spieler wirkten mit der Spielidee Tuchels unzufrieden - allen voran die durch den Trainer im Sommer angezählten Goretzka und Kimmich. Tuchel selbst wirkte zunehmend ratlos. Und Bayer Leverkusen demonstrierte beim 3:0-Sieg über den FC Bayern, wie ein funktionierendes Mannschaftsgefüge aussieht. Die Niederlage wirkt wie der große Knackpunkt in der Saison.
50 Punkte nach 22 Spieltagen - Normalerweise genug für den Titel
Nicht nur verloren die Münchner den Anschluss an die Tabellenspitze, sondern vollends die Fassung. Es folgten die Niederlage gegen Lazio Rom und ein 2:3 beim VfL Bochum, das den Kampf um die Meisterschale aussichtslos erscheinen ließ. Die Trainerfrage war nicht einmal ein Jahr nach Tuchels Ankunft in München omnipräsent - und wurde schließlich zuungunsten von Tuchel entschieden. Der 50-Jährige, der als Idealbesetzung gekommen war, scheiterte.
50 Punkte haben die Münchner am 22. Spieltag, dem Zeitpunkt für das Tuchel-Aus, auf dem Konto. 50 Punkte am 22. Spieltag hätten in den vergangenen elf Saisons neunmal für Tabellenplatz eins gereicht. 50 Punkte am 22. Spieltag scheinen diesmal aber zu wenig zu sein, weil Bayer Leverkusen furios durch die Bundesliga marschiert. Und weil sich die Spieler oft derart lust- und ideenlos über den Platz bewegen, dass man schnell zu dem Schluss kommt, dass irgendetwas in dieser Mannschaft nicht passt. Und auch der Trainer wirkte nach Niederlagen häufiger eher rat- als rastlos.
FC Bayern nach Tuchel: Ein Verein im Umbruch
Nun hat man in München die Reißleine gezogen. Der nächste Trainer ist in München gescheitert und die Suche nach einer langfristigen Lösung an der Seitenlinie beginnt von Neuem. Es bleibt allerdings der Eindruck zurück, dass es mit einem Neuanfang auf der Trainerbank alleine nicht getan ist. Zu sehr ähneln sich die Saisons von Nagelsmann und Tuchel.
Zu lang sind die Leistungstiefs der Stammspieler. Zu unglücklich agiert das Führungspersonal in wichtigen Phasen. Was nun kommt beim FC Bayern, bleibt abzuwarten. Sicher ist nur, dass die Ära Tuchel beendet ist, bevor sie beginnen konnte. Vielleicht kehrt mit dieser Entscheidung zumindest ein wenig Ruhe in den Verein ein. Denn Nebengeräusche gibt es in München seit geraumer Zeit mehr als genug.
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