Deutschlands Wirtschaft ist im vergangenen Jahr geschrumpft. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ging um 0,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurück, wie das Statistische Bundesamt am Montag mitgeteilt hat. "Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland kam im Jahr 2023 im nach wie vor krisengeprägten Umfeld ins Stocken", sagte Behördenchefin Ruth Brand in Berlin. Im Jahr 2022 war das BIP noch um 1,8 Prozent gestiegen.
Und auch im neuen Jahr könnte das Wachstum ähnlich verhalten ausfallen: Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) rechnet damit, dass auch 2024 für Deutschland ein wirtschaftliches Schrumpfjahr wird, in dem das Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt um 0,3 Prozent zurückgeht.
Wo kommt die Wirtschaftsleistung her und wie wird sie ermittelt?
Berechnet wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) vom Statistischen Bundesamt anhand des Werts von allen in unserer Volkswirtschaft produzierten Waren und Dienstleistungen. Dazu zählen auch die privaten Ausgaben von Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie die Investitionen am Bau und in den Unternehmen. Dazu kommt noch der Außenbeitrag, bei dem es sich um die Differenz von Ausfuhren und Einfuhren handelt.
Alles zusammen gerechnet ergibt sich für Deutschland eine Zahl von umgerechnet rund vier Billionen Dollar für die jährliche Wirtschaftsleistung. Das ist ähnlich viel wie in Japan. Nur die USA (rund 25 Billionen Dollar) und China (knapp 18 Billionen Dollar) liegen hier mit weitem Abstand vorne.
Preisentwicklung wird beim BIP nicht berücksichtigt
Höhere Preise werden bei der Berechnung der Wirtschaftsleistung aber einfach ausgeblendet, zwecks besserer Vergleichbarkeit. Verbraucherinnen und Verbrauchern ist also nur wenig damit gedient, weil ihre Kaufkraftverluste durch die Inflation nicht berücksichtigt werden.
Dazu erklärte der frühere Wirtschaftsweise und Würzburger Professor Peter Bofinger in seinem Lehrbuch "Grundzüge der Volkswirtschaftslehre": "Wenn man die wirtschaftliche Entwicklung anhand des BIP betrachten will, muss man jedoch berücksichtigen, dass die Preise der Güter im Durchschnitt nicht konstant sind, sondern in der Regel ständig ansteigen."
Vor allem in der letzten Zeit mit der hohen Inflation mussten die Konsumenten für Waren und Dienstleistungen deutlich mehr bezahlen als im Vergleichszeitraum. Dieser Zeitraum bezieht sich entweder in der kurzfristigen Berechnung auf das Vorquartal oder auf das Vorjahr.
Reine Wirtschaftsleistung auf Rekordniveau
Die amtliche Statistik unterscheidet beim Bruttoinlandsprodukt allerdings nach der Wirtschaftsleistung mit und ohne die Inflation gerechnet: "in jeweiligen Preisen", also inklusive der Teuerungsraten haben die Deutschen 2023 den Rekordwert von 4.121,2 Milliarden erwirtschaftet. Im Vorjahr 2022 waren das noch 3.876,8 Milliarden Euro und damit deutlich weniger.
Pro Einwohner gerechnet ergibt das einen Anstieg des BIP pro Kopf von 46.264 Euro im Jahr auf 48.746 Euro, was auch ein starkes Plus ist. Um dann aber das tatsächliche Wirtschaftswachstum zu berechnen, ziehen die Statistiker von beiden Werten noch anteilig die hohe Inflation ab.
Reales BIP zeigt fairen Wohlstandsgewinn
Wenn zur Berechnung von Wirtschaftsleistung und Wohlstandsgewinn beim Bruttoinlandsprodukt der Faktor Inflation einbezogen wird, spricht man vom realen oder preisbereinigten BIP. Nur so ist ein fairer Vergleich zu einem vorangegangenen Zeitraum möglich. Sonst hätten die Länder mit der höchsten Inflation wie Argentinien oder die Türkei stets das höchste Wirtschaftswachstum, was die Statistik total verfälschen würde.
Weiterhin sagt die nackte Wachstumszahl BIP nichts über die Verteilung des Wohlstands zwischen Arm und Reich aus und auch nichts über andere soziale, ökologische oder gesellschaftliche Entwicklungen. Kritiker des BIP als Wohlstandsindikator fragen: Wäre es nicht an der Zeit, andere Berechnungen anzustellen, um damit den Wohlstand besser messen zu können?
Im Bundeswirtschaftsministerium verweist Staatssekretär Sven Giegold auf die Wohlfahrtsmessung, welche die Ampelkoalition mit dem Jahreswirtschaftsbericht 2022 eingeführt hat. Berücksichtigt werden dabei ganz neue Faktoren wie die regionale Einkommensverteilung, Bildung, Gesundheit oder die Erreichbarkeit wichtiger Einrichtungen wie Schulen oder Krankenhäuser. Eine Rolle spielt auch die Anbindung an den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV).
Nationaler Wohlfahrtsindex (NWI) zeigt andere Entwicklung als BIP
So lässt sich aus insgesamt 21 Kriterien der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) bilden, der vom Umweltbundesamt kommentiert wird. Der NWI erreichte demnach 1999 seinen höchsten Wert und nahm danach bis 2005 wieder ab. Nach einer Stagnation habe es dann 2014 einen Aufwärtstrend gegeben, der "durch die Folgen der Corona-Pandemie abrupt beendet wurde", so das Umweltbundesamt. 2021 habe insbesondere die Flutkatastrophe an Ahr und Erft einen weiteren Rückgang des NWI verursacht.
Anders als im BIP werden beim NWI vor allem auch Folgekosten der wirtschaftlichen Tätigkeiten mitberücksichtigt, wie Umweltschäden. Der Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen wie bei fossilen Energieträgern Öl, Gas und Kohle wirkt sich wohlfahrtsmindernd aus, ebenso wie die zunehmende Ungleichheit bei der Verteilung der Einkommen seit dem Jahr 2000. Das Ehrenamt oder die Hausarbeit werden in dem Index als wohlfahrtssteigernd gewertet. Der NWI soll in der Politik nicht nur beim Bund, sondern auch in den Ländern zunehmend berücksichtigt werden, berichtet das Umweltbundesamt.
Auffällig ist, dass NWI und BIP sich oft nicht parallel entwickelt haben, sondern in einigen Jahren sogar gegenläufig. Unterm Strich konnte die so ermittelte Wohlfahrt mit dem wirtschaftlichen Wachstum offenbar nicht mithalten, weil das BIP seit den 90er-Jahren fast kontinuierlich gewachsen ist, während der NWI stark schwankte.
Lebenserwartung seit Corona in Deutschland rückläufig
Bei der Wohlfahrtsmessung geht es zum Beispiel auch um die Lebenserwartung, die seit Corona in Deutschland ebenfalls rückläufig ist. Es starben mehr Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen als in früheren Jahren. Dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung zufolge hat sich die Lebenserwartung seit Beginn der Pandemie um mehr als ein halbes Jahr verringert. Sie betrug im Jahr 2023 bei Männern nur noch 78,1 Jahre und bei Frauen 82,8 Jahre. Damit wäre Deutschland jedoch im Vergleich mit anderen OECD-Industrieländern immer noch guter Durchschnitt.
Die "Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung" (OECD) – ein Zusammenschluss von weltweit 38 Industriestaaten, die sich Demokratie und Marktwirtschaft verpflichtet fühlen, ermittelt einen "Better Life Index". Für dieses "bessere Leben" werden unter anderem Einkommen, Wohnbedingungen, Sicherheit, Gesundheit und Umwelt betrachtet. In Verbindung mit der Lebenserwartung werden zum Beispiel Faktoren mitberücksichtigt, die das Leben verkürzen, wie vermeidbare Krankheiten, oder verlängern, wie ein guter Gesundheitssektor. Viele Experten sagen, dass der OECD-"Better Life Index" die Bedingungen und Umstände, unter denen die Menschen in einzelnen Ländern leben, wesentlich besser widerspiegelt als die bloße ökonomische Wachstumszahl des BIP.
OECD warnt vor wachsender Altersarmut in Deutschland
So untersucht die Organisation auch die Altersversorgung in ihren Mitgliedsländern mithilfe von Modellrechnungen, die alle zwei Jahre durchgeführt werden. Dabei setzt sie die zu erwartenden Renten ins Verhältnis zum Einkommen in der Erwerbsphase während des aktiven Arbeitslebens. Wenn der Unterschied zwischen dem Erwerbseinkommen und der späteren Rente besonders groß ist, drohe vielen Menschen die Altersarmut, so die OECD.
Verstärkt wird diese Entwicklung in Deutschland durch eine Zunahme von unsicheren, sogenannten prekären Arbeitsverhältnissen und von unterbrochenen Erwerbsbiografien. Dadurch fehlen viele Beitragsjahre in der deutschen Rentenversicherung. Wiederholt warnte die OECD deshalb vor einer zunehmenden Altersarmut in Deutschland.
Olaf Scholz beeindruckt vom "Bruttonationalglück" in Bhutan
Einen ganz anderen Ansatz verfolgt das Himalaya-Königreich Bhutan mit dem von ihm ermittelten "Bruttonationalglück". Dabei sind Indikatoren wie "gutes Regieren", aber auch eine nachhaltige soziale und wirtschaftliche Entwicklung gefragt. Kulturförderung und Umweltschutz werden ebenfalls mit gewichtet. Bhutans Idee, das Glücksgefühl seiner Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen, sei "faszinierend", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beim Staatsbesuch des Ministerpräsidenten von Bhutan, Lotay Tshering, im März 2023 in Berlin: "Ich finde es sehr sinnvoll, unseren Wohlstand nicht nur anhand von ökonomischen Größen zu messen, sondern auch nicht-materielle Faktoren einzubeziehen", so der Bundeskanzler damals.
Wirtschaftsforscher setzen weiter auf das BIP
Weltweit gibt es im Bereich von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen (NGO) geschätzte 500 Initiativen, die sich damit beschäftigen, herauszufinden, was Wohlstand wirklich ausmacht.
Bei den Analysen und Prognosen der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute und in den Gutachten der sogenannten Wirtschaftsweisen für die Bundesregierung zählen dagegen fast ausschließlich die klassischen Berechnungen des BIP vom Statistischen Bundesamt.
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