Eltern, die einen Betreuungsplatz für ihr Kind suchen, wissen, wie das ist: schwierig. Egal ob Kita, Kindergarten, Mittagsbetreuung oder Hort – die Plätze sind rar. Eltern von Kindern mit größerem Betreuungsbedarf haben es noch viel schwerer.
Pflege wird zum 24-Stunden-Job
Enno lebt von Geburt an mit einer komplexen Mehrfachbehinderung. Der 15-Jährige kann nicht sprechen, Arme und Beine nicht einsetzen; an Getränken würde er sich verschlucken. Flüssigkeiten und Medikamente bekommt er daher alle zwei Stunden über eine Magensonde. Unter der Woche besucht Enno eine Förderschule und wohnt im angeschlossenen Schülerwohnheim. An den Wochenenden kümmern sich die Eltern, Uwe und Kathrin, rund um die Uhr um ihn.
Nachts wenden, wickeln, immer parat sein. Am Wochenende ein 24-Stunden-Job. Hart, aber machbar. Doch Uwe und Kathrin fürchten die nahe Zukunft. "Es ist natürlich für uns Eltern schon eine große Herausforderung, einfach nicht zu wissen, wie es weitergeht", sagt Vater Uwe. Denn es ist alles andere als sicher, dass Enno im Anschluss an die Schule in ein Wohnheim für Erwachsene umziehen kann. Für Menschen mit Mehrfachbehinderungen gibt es so gut wie keine freien Plätze. "Ich habe 20 Einrichtungen angeschrieben per E-Mail, auch mit einem Foto und persönlich und auch berührend – und hab von den allerwenigsten eine Antwort bekommen", berichtet Mutter Kathrin.
Ohne Platz in einem Wohnheim müssten Kathrin und ihr Mann ihren dann 18-jährigen Sohn selbst rund um die Uhr versorgen. "Die Behinderung wird teilweise ja auch immer noch stärker, weil die werden älter, die werden schwerer. Und unsere Kräfte gehen nach unten", erläutert Kathrin.
Wenn das Kind 18 wird – was kommt danach?
So wie Enno besucht auch Florian Jaenickes Sohn bislang noch eine Förderschule. Auch er ist sehr besorgt. Seit einem Jahr suchen er und seine Frau händeringend nach einem Platz in einer Wohngruppe. Die Zeit drängt sogar noch mehr: Friedrich ist 18. Im Sommer wird er die Förderschule der 'Helfenden Hände' verlassen. Und dann?
"Ich kann einfach nur sagen, es ist beängstigend", sagt Florian Jaenicke. "Es ist wirklich beängstigend, weil wir nicht wissen, was passieren wird Ende des Sommers. Teilweise gibt es gar keine Wartelisten mehr, weil die Einrichtungen sagen, es ist sowieso hoffnungslos." Naheliegend wäre es, wenn Friedrich ins Erwachsenen-Wohnheim der 'Helfenden Hände' umziehen könnte. Doch das ist wohl aussichtslos.
"Es muss jemand sterben, damit ein Platz frei wird"
Denn die 54 Wohnplätze sind alle vergeben, sagt Beate Bettenhausen, die als Mutter eines Sohnes mit Mehrfachbehinderung im Vorstand der 'Helfenden Hände' in München sitzt. Nicht nur das – 68 Anwärter stehen auf der Warteliste. "Es heißt, dass eigentlich jemand sterben muss, damit ein Platz frei wird", sagt Bettenhausen. "Und das ist eine ganz bittere Wahrheit, die ich mich kaum traue auszusprechen."
Wie in allen Einrichtungen fehlt es auch bei den 'Helfenden Händen' an Personal. Viele Mitarbeitende gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Die wenigen Bewerber haben oft kein Interesse an Schichtdienst. Beate Bettenhausen sieht die Politik in der Pflicht: "Wir würden uns wünschen, dass die Anerkennung von ausländischen Fachkräften beschleunigt wird, dass wir aber auch Programme haben für Quereinsteiger, also für Menschen, die sich vielleicht nach der ersten Berufsausbildung noch mal umorientieren."
Ziel: Mehr Betreuungsangebote
Bayernweit müssen bereits erste Wohngruppen schließen. Viele Träger wissen nicht, wie sie weiterarbeiten können, auch weil Fachkräfte fehlen. "Wir können manchmal Löcher noch mit Zeitarbeit stopfen, aber das ist teuer und uns fehlt auch einfach die notwendige Finanzierung, um hier massiv auszubauen", erläutert Bettenhausen.
Für die Finanzierung und Bereitstellung der Wohnplätze sind in Bayern die Bezirke zuständig. Die BR-Redaktion mehr/wert fragte dort an: Wurde der Bedarf zu spät erkannt? Die Antwort: Neue Betreuungsangebote zu schaffen scheitere nicht am Willen der Bezirke, diese zu finanzieren, heißt es. Das Problem sei der Fachkräftemangel. Man schlage daher mehr Durchlässigkeit und Qualifizierungsmöglichkeiten für Quereinsteiger vor.
Eltern starten eine Petition
Eltern von Kindern mit schwersten Behinderungen werden oft unfreiwillig zu Konkurrenten um die raren Plätze. Kathrin hingegen möchte für mehr Plätze kämpfen und will über eine Webseite (Externer Link) betroffene Eltern zusammenbringen. Um noch mehr zu bewegen, hat sie eine Petition gestartet, mit bislang ungeahntem Erfolg: "Wir sind fast bei 2.500 Unterschriften und das finde ich wirklich toll für eine ja doch Nische, die wir darstellen", sagt Kathrin.
Doch sie möchte noch weitergehen. Dorthin, wo Gesetze gemacht werden. Kathrin trifft Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU) im Landtag, übergibt ihre Petition und äußert zugleich die Hoffnung, dass sich die Politik aktiv für mehr Wohngruppen und Förderstätten "und tatsächlich auch bessere Bedingungen" einsetzt. Die Ministerin sagt ihr Unterstützung zu: "Wir tun alles, um Fachkräfte zu generieren, um zu werben für diese Berufe, um die Ausbildung attraktiv zu machen. Und dann geht es um die Arbeitsbedingungen, wo die Träger dann nochmal zuständig sind."
Anschließend wendet sich Kathrin an Doris Rauscher (SPD) und Thomas Huber (CSU), die Vorsitzenden im Sozialausschuss, in dem Gesetzentwürfe beraten und Petitionen behandelt werden. Kathrins Anliegen wird auf die Tagesordnung gesetzt. Im März darf sie mit ihrer Petition in den Ausschuss kommen. Ein wichtiger Schritt.
Dieser Artikel ist erstmals am 11.02.2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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