Wo soll Lea in Zukunft leben? So banal die Frage auch klingen mag – Stand jetzt haben ihre Eltern darauf keine Antwort. Bislang wohnt Lea unter der Woche in einer Einrichtung für Jugendliche mit Behinderung in München. Die Wochenenden verbringt Lea abwechselnd bei ihrer Mutter Sandra Bott-Bodenhausen und ihrem Vater Henning Brunotte, die beiden sind getrennt. Vor kurzem ist Lea 18 geworden. Eigentlich ein Grund zum Feiern – aber für Eltern und Tochter bedeutet der Geburtstag auch große Unsicherheit. Im Juli endet die Schulzeit, dann muss Lea aus dem Wohnheim ausziehen. Eine Zusage für einen Platz in einer Erwachseneneinrichtung haben die Eltern bislang nicht.
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Intensive Betreuung im Alltag
Wenn Lea mit ihrem Vater auf dem Münchner Frühlingsfest Autoscooter fährt, hat sie ein Lachen auf dem Gesicht. Mit Hilfe kann sie danach aussteigen und die wenigen Meter bis zu ihrem Rollstuhl laufen. "Das macht natürlich Spaß", sagt Brunotte, "man hofft ja auch immer, dass etwas an Erinnerung hängen bleibt." – "Ja", sagt Lea.
Die junge Frau ist schwerbehindert, sie kann sprechen aber ihre kognitiven Fähigkeiten sind stark eingeschränkt. Leas Gehirn ist geschädigt, sie braucht im Alltag intensive Betreuung. Die ablaufende Frist im Schülerwohnheim macht den Eltern der 18-Jährigen Angst. Beide sind berufstätig. Schwer vorstellbar für sie, Lea komplett allein zu versorgen. "Das würde Lea isolieren, das würde uns isolieren und wäre auf Dauer eine Katastrophe," so Henning Brunotte.
Eltern fühlen sich von Politik im Stich gelassen
Ganz ähnliche Sorgen hat die Familie von Korbinian aus Olching. Auch er ist gerade volljährig geworden und verbringt vor allem die Wochenenden bei seinen Eltern. Den Platz im Internat in München, wo er die restliche Zeit verbringt, wird er im kommenden Jahr verlieren. Korbinian kann weder laufen noch sprechen. Auch beim Essen und Trinken braucht er Hilfe, phasenweise hat er Schmerzattacken. Die Eltern, Uschi und Alfons Keim, sind noch berufstätig, aber beide schon über 60 Jahre alt, die Pflege ihres Sohnes ist anstrengend.
Auch nachts schreit Korbinian oft nach Hilfe. "Wenn man im Bett liegt, dreht man sich ja doch mehrmals in der Nacht um", sagt Uschi Keim, "er kann das nicht alleine." Fünf Schlafunterbrechungen sind keine Seltenheit. Beim Hinlegen kommen ihr Gedanken an den Wecker, der bald klingelt, sie müsse "schnell schlafen" um morgens aufstehen und arbeiten zu können. Alfons Keim ist im Elternbeirat des Internats, in dem sein Sohn lebt. Er erzählt, dass dort in diesem Jahr 14 Schüler entlassen werden: "Davon haben zwei im Moment einen festen Platz erhalten. Alle anderen sind noch auf der Suche." Die Keims wissen nicht, wie lange sie durchhalten, sollten sie Korbinian wieder ganz alleine pflegen müssen. Sie fühlen sich von der Politik im Stich gelassen.
Personalmangel gefährdet Einrichtungen
Der Hauptgrund für die problematische Lage: fehlende Fachkräfte. In einem Heim der Lebenshilfe am Schliersee steht deshalb ein ganzes Stockwerk leer. Andernorts ist die Eröffnung von ganzen Einrichtungen gefährdet. Seit der Corona-Krise sind viele Pflegekräfte abgewandert. Die Kurzzeitpflege fällt aufgrund des Personalmangels im "Haus Bambi" derzeit aus. "Ich merke eine große Not seitens der Eltern", sagt Einrichtungsleiterin Erika Guggenmos.
Auf Anfrage des BR-Politikmagazins Kontrovers verweist das bayerische Sozialministerium auf die 82 Millionen Euro, die der Freistaat im Jahr 2022 als Fördersumme für den Bau von Wohn- und Beschäftigungsplätzen zur Verfügung gestellt habe. Tatsächlich sei der Personalmangel eine große Herausforderung, aber: "Die Gewinnung neuer Beschäftigter und erst recht die Gewinnung neuer Auszubildender ist ureigene Aufgabe der jeweiligen Einrichtungsträger", so das Ministerium. Auch in den Bezirken und bei den Trägern will auf Anfrage niemand die Verantwortung für die aktuelle Situation übernehmen.
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Politik kommt "nicht hinterher"
Bis letztes Jahr war Carolina Trautner bayerische Sozialministerin. Jetzt ist sie Vorsitzende der Lebenshilfe Bayern und muss mit den Konsequenzen der Politik leben. "Man kommt halt nicht hinterher", sagt Trautner. Das Thema sei erkannt und "wir tun wirklich alles, was in unseren Kräften steht, um hier genügend anzubieten". Doch aktuell reicht das offenbar nicht.
Auf dem Esszimmertisch breitet Sandra Bott-Bodenhausen die Infobroschüren aller Einrichtungen aus, die sie und Lea schon besucht haben: Warteliste, Warteliste, Warteliste. "Es gibt einfach keinen Platz", sagt Bott-Bodenhausen. Vier Jahre hat Lea in der Einrichtung gewohnt. Sie habe gelernt, mit Menschen zu kommunizieren und auch Nähe zuzulassen, erzählt ihre Mutter, Fähigkeiten für das gute Miteinander in einer Gruppe. "Je länger sie zuhause ist, umso mehr gehen diese Fähigkeiten wieder verloren", sagt ihre Mutter.
Kurz vor der Kontrovers–Sendung erreicht die Redaktion ein Anruf von Leas Eltern: Es sehe nun doch alles etwas besser aus, als befürchtet. Man habe zwar noch nichts schriftlich, "aber vielleicht wird es doch einen Wohnheimplatz für unsere Tochter geben, hier in München."
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