Eine Bewohnerin eines Pflegeheims wird von einer Pflegerin einen Gang entlang geschoben.
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Experten befürchten, dass die flächendeckende Pflegeversorgung - ambulant und stationär aufgrund der steigenden Kosten gefährdet ist.

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Pflegekosten vor dem Kollaps?

Die Pflegekosten steigen. Leistungen der Kassen und staatliche Zuschüsse können Betroffene kaum entlasten. Die finanzielle Lage vieler Seniorinnen und Senioren spitzt sich zu.

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Die Kostenspirale dreht sich weiter. Auch in diesem Jahr. So erhöhte etwa der Caritasverband Bayern die Preise für pflegerische Leistungen seiner ambulanten Dienste im März um weitere 9,28 Prozent – nachdem bereits im Oktober vergangenen Jahres die Kosten um 24 Prozent in die Höhe geschnellt waren. Insgesamt verteuerte sich so die Pflege zu Hause innerhalb von nur sechs Monaten um rund ein Drittel.  

Hohe Personalkosten, Inflation und Energiepreise 

Begründet wird diese Entwicklung vor allem mit höheren Personalkosten. So habe die letzte Tarifrunde zu "deutlichen Entgelterhöhungen von bis zu 16,5 Prozent" geführt, berichtet der Caritasverband für München und Freising. Weitere Ursachen für die Kostenexplosion seien die Inflation und gestiegene Energiepreise.

Auch Nachholeffekte würden zu Buche schlagen. So hätten die Pflegekassen in den vergangenen Jahren bei den Verhandlungen mit der Caritas und anderen Trägern "erheblich gespart" und etwa Tarifsteigerungen nicht angemessen berücksichtigt. Besonders bei kleineren, ambulanten Pflegediensten habe dies jüngst zu einer "Insolvenz-Welle" geführt. Auch bei der Caritas selbst seien "höhere Defizite" entstanden.  

Bayerisches Rotes Kreuz: Flächendeckende Pflege-Versorgung gefährdet 

Nicht nur für Pflegebedürftige entwickeln sich die Kostensteigerungen zu einem immer größeren Problem. Auch die Anbieter selbst sehen ihre wirtschaftliche Lage zunehmend gefährdet. Als "sehr angespannt bis dramatisch" beschreibt Armin Petermann, stellvertretender Landesgeschäftsführer des bayerischen roten Kreuzes, die Situation.

Die aktuellen Vergütungssätze seien trotz Preissteigerungen der vergangenen Jahre "nicht auskömmlich". In Einzelfällen sei die Versorgung der Versicherten aufgrund möglicher Betriebsschließungen gefährdet. Es bestehe die ernsthafte Sorge, dass ambulante Dienste des Roten Kreuzes in Bayern "aus wirtschaftlicher Notlage heraus eine flächendeckende Versorgung für die Versicherten nicht mehr sicherstellen und aufrechterhalten können."

Kosten in Pflegeheimen: Keine Entspannung in Sicht

Nicht nur die Pflege zu Hause wird immer teurer. Auch die Kosten in Alten- und Pflegeheimen steigen weiter an. Bereits 2023 verteuerten sich die Preise in vielen Heimen erheblich. In anderen weniger. Wer im letzten Jahr noch nicht so stark betroffen war, auf den könnte in diesem Sommer aber eine noch höhere Kostenwelle zurollen.

Doris Schneider, Geschäftsführerin von 27 Caritas Altenheimen in München und Oberbayern, sagt, dass vielen Pflegebedürftigen eine monatliche Preiserhöhung von 900 Euro angekündigt worden sei. Ob diese in den Verhandlungen mit Pflegekassen und Bezirken auch durchgesetzt werden kann, sei noch nicht entschieden. Die Caritas geht davon aus, dass es auch in diesem Jahr schwierig werden wird, solch hohe Forderungen durchzusetzen. Im vergangenen Jahr waren bereits einem Teil der Bewohnerinnen und Bewohnern Preiserhöhungen von 800 Euro angekündigt worden, am Ende wurden nur 600 Euro genehmigt. 

Finanzielle Abhängigkeit nimmt zu

Welche Ergebnisse auch immer in den nächsten Wochen oder Monaten verhandelt werden, die Folgen für Betroffene sind erheblich. Doris Schneider rechnet damit, dass "viele Menschen dann zunächst mal vielleicht wieder in der Sozialhilfe landen", weil sie die Finanzierung aus eigenen Mitteln nicht schaffen. Zum 1. Januar nächsten Jahres könnten dieselben "dann vielleicht wieder rauskommen" aus der Sozialhilfe, weil die Anteile, welche die Pflegekasse übernimmt, dann steigen würden. Das Ganze sei ein "ständiges Hin und Her" – mit anderen Worten: Für hochbetagte Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben und eine Rente beziehen, ein unwürdiges Schauspiel.

Durchschnittliche Renten reichen nicht, um Pflegekosten zu decken

Dass eine durchschnittliche Rente oder entsprechende Beamtenpension für die Pflege bei weitem nicht ausreicht, beschäftigt auch Andreas Roß aus Augsburg. Seine Frau Gabriele Roß erlitt vor vier Jahren einen schweren Schlaganfall und ist seitdem pflegebedürftig. Im zweiten Anlauf gelang es, für sie ein gutes Heim in fußläufiger Entfernung zur eigenen Wohnung zu finden.

Wie überall in Bayern sind aber auch in diesem Heim die hohen Kostensteigerungen ein Problem. Seit diesem Jahr zahlt der 72-jährige rund 400 Euro mehr für den Heimplatz seiner Frau, insgesamt schon rund 2.900 Euro. Die Rente nur eines Lebenspartners reiche bei weitem nicht, um die monatlichen Kosten zu decken. Andreas Roß muss auch noch einen erheblichen Teil seiner eigenen Rente investieren.

Dank guter Vorsorge schafft es das Paar, finanziell selbständig zu bleiben: "Wir haben ein bisschen was auf die Seite gelegt, das man auch zusetzen kann, wenn es mal eng und wenn es knapp wird." Er und seine Frau könnten zwar gemeinsam die höheren Preise noch finanzieren, "aber auch die Möglichkeiten gehen irgendwann mal zu Ende." 

Kritik am Pflegesystem: Verarmung nimmt zu 

Kritik an den stark steigenden Pflegekosten können viele Betroffene kaum noch direkt äußern, da sie aufgrund ihres Alters körperlich und psychisch oft zu stark eingeschränkt sind. Angehörige müssen ebenfalls mit den schwieriger werdenden finanziellen Bedingungen klarkommen.

Ein Protestbrief von Angehörigen und Bewohnern des Augsburger Seniorenheims St. Afra zeigt, wie groß die Sorgen mittlerweile sind. Gesundheitsminister Karl Lauterbach und die Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Claudia Moll werden darin freundlich aufgerufen, endlich zu handeln: Man sei dankbar für das moderne, gute Pflegeheim in Augsburg. Doch der Lebensabend werde "durch die aktuelle Kostenentwicklung und durch die strukturellen Fehler im Pflegesystem immer mehr zum finanziellen Risiko." Die Kostenspirale habe schon heute viele Bewohner in die Sozialhilfe gebracht "und es werden immer mehr". Eine normale Rente reiche bei rund 3.000 Euro Eigenanteil an den Heimkosten längst nicht mehr aus. Die momentane Entwicklung führe zu einer immer “weiteren Verarmung der Heimbewohner”.  

Sozialverband VdK fordert finanzielle Entlastung

Während die protestierenden Angehörigen und Pflegeheimbewohner in Augsburg "grundlegende und nachhaltige Strukturreformen" sowie "eine Umstellung der Pflegeversicherung auf eine Vollversicherung" fordern, üben auch Sozialverbände scharfe Kritik. Es sei "ein riesiges Problem, dass heute die Pflegekosten immer mehr steigen", sagt die Vorsitzende des Sozialverbands VdK Bayern, Verena Bentele, die zugleich Bundesvorsitzende ist. Die Politik zeige zu wenig Initiative, Betroffene zu entlasten.

Einige Kritikpunkte hebt Verena Bentele im Interview mit dem BR besonders hervor: So sei nicht einzusehen, dass "die Ausbildungszulage immer noch bei den Betroffenen landet und nicht vom Staat vollfinanziert wird". Auch sollten Heimbewohner, die ja Miete zahlen, nicht zusätzlich noch für sogenannte "Investitionskosten" aufkommen müssen. Diese sind in manchen Fällen nochmal genauso hoch oder sogar noch höher als die eigentliche Miete. Investitionskosten sollten eigentlich "komplett von den Bundesländern finanziert werden", so Bentele. Diese seien für Bau und Erhalt einer ausreichenden und bedarfsgerechten Pflegeinfrastruktur zuständig.

Die hohen Preissteigerungen seien ein "Riesenproblem" und führten dazu, dass immer mehr Menschen Sozialhilfe beantragen müssen. Im Moment sei noch kein Ende der Kostensteigerungen zu erkennen. Zunehmend könnten sich Betroffene Pflege nicht mehr leisten und würden deshalb weniger Hilfe in Anspruch nehmen.  

Sparen an Pflegeleistungen: Gefahr der Unterversorgung

Der Sozialverband Deutschland hält die aktuelle Lage für alarmierend. Sie spitze sich immer weiter zu. Die zu zahlenden Eigenanteile in Pflegeheimen würden schon heute eine Durchschnittsrente um mehr als das Doppelte übersteigen. Viele können oder wollen sich kein Pflegeheim mehr leisten. Alternativ kann durch die ambulante Versorgung zu Hause der Aufenthalt in einem Pflegeheim umgangen werden. Hier bestehe bei stark steigenden Preisen aber "die Gefahr der Unterversorgung", wenn Betroffene allein aus Kostengründen auf notwendige Pflegeleistungen verzichten. Viele könnten auch hier "die hohen Zuzahlungen aus eigener Tasche nicht mehr aufbringen". Die Pflegeversicherung als "Teilkaskoversicherung" werde ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht. Eine umfassende Pflegereform sei längst überfällig und könne nicht weiter aufgeschoben werden. 

Pflegeschutzbund: Preise für Pflege oft intransparent 

Auf die immer weiter steigenden Kosten würden Betroffene zunehmend mit Unverständnis und Verzweiflung reagieren. Aber auch mit Wut, da mehr Geld verlangt werde und "zeitgleich die Leistung – insbesondere aufgrund des Fachkräftemangels – abnimmt". Auch die "hohe Frequenz der Erhöhungen" treffe auf Unverständnis. Hauptkritikpunkt des Pflegeschutzbundes: Das Pflegesystem bürde fast alle Mehrkosten den Betroffenen auf und übernehme selbst nur einen festgelegten Anteil. Die Preise für Pflegeleistungen seien zudem oft sehr intransparent.

Politische Reaktionen auf Kostensteigerung

Die Bevollmächtigte der Bundesregierung für Pflege, Claudia Moll, schreibt an die Bewohnerinnen und Bewohner des Augsburger Pflegeheims St. Afra: Sie erhalte "eine Vielzahl von Hilferufen zur Deckelung der Eigenanteile in der stationären Pflege." Um Betroffene stärker zu entlasten, wolle sie sich dafür einsetzen, dass Ausbildungskosten und medizinische Behandlungspflege künftig nicht mehr von den Pflegefällen bezahlt werden müssen. Auch habe sie sich bereits mehrfach an die Bundesländer gewandt, "ihrer Pflicht zur Übernahme der Investitionskosten nachzukommen". Wenn dies alle Länder täten, könnten die Pflegebedürftigen "Tausende Euro pro Jahr sparen." Claudia Molls Ausblick klingt ernüchternd: "Wir werden nie wieder so viele Pflegekräfte haben, wohl kaum mehr Geld, aber sicher mehr Menschen mit Pflegebedarf."

Bayerisches Gesundheitsministerium fordert Reformen

Das bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege will sich dafür einsetzen, dass Ausbildungskosten künftig nicht mehr von den Pflegebedürftigen bezahlt werden, sondern aus Steuermitteln. Insgesamt müsse der “"extreme Anstieg" der zu zahlenden Eigenanteile begrenzt werden. Bei langen Pflegeverläufen müsse die Pflegeversicherung pflegebedingte Kosten ab einem bestimmten Zeit vollständig übernehmen.

Investitionskosten müssten jedoch weiter auch von den Heimbewohnern getragen werden. Mit dem Förderprogramm "PflegeSoNah" habe Bayern in den vergangenen Jahren rund 273 Millionen Euro in Heime investiert und gehöre so zu den Bundesländern mit der höchsten Investitionskostenförderung.

Zudem sind nach Angaben des Ministeriums die Investitionskosten, welche Bewohner monatlich zahlen müssen, zwischen 2018 und 2024 um lediglich rund 3,6 Prozent gestiegen: Von durchschnittlich 405 Euro auf 420 Euro. Im gleichen Zeitraum hätten sich die Eigenanteile der pflegebedingten Kosten von 733 Euro auf 1.473 Euro mehr als verdoppelt.

Übernahme der kompletten Pflegekosten künftig möglich?

Hoffnung auf schnelle Hilfen macht auch das Bundesministerium für Gesundheit nicht. Die Kostenentwicklung sei schon seit Juni 2023 ein Thema interministerieller Arbeitsgruppen. Auch die Länder seien daran beteiligt und würden Empfehlungen für eine nachhaltige und langfristige Finanzierung der Pflegeversicherung erarbeiten. Antworten zu einer künftigen Finanzierung stationärer Langzeitpflege seien in dem bislang nicht veröffentlichten Bericht ebenfalls enthalten. Wann aus Worten Taten werden, ist aber noch völlig ungewiss.

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