Die meisten Analysten und Fondsmanager überzeugte die Geschichte, die ihnen zum Börsengang von Siemens Energy im Herbst 2020 erzählt wurde: Europas größter Energietechnik-Hersteller, Weltmarktführer bei den Windrädern auf hoher See (offshore), Lieferant von Gaskraftwerken, stark bei Energienetzen und Übertragungstechnik und den meisten anderen Technologien, die es für die Energiewende weltweit braucht.
Siemens Energy: Vom Hoffnungsträger zum Börsenschreck
Drei Jahre später sieht alles anders aus: Von Quartal zu Quartal kamen neue Hiobsbotschaften. Und es war ausgerechnet das Windkraftgeschäft, das immer tiefer in die roten Zahlen rutschte. Zigmal musste der Vorstand von Siemens Energy seine Prognosen nach unten korrigieren.
"Kurse um 36 Euro hatte uns Siemens damals, im Jahr 2020, versprochen", erinnerte sich eine Frankfurter Fondsmanagerin im Sommer, als der Aktienkurs von Siemens Energy mal wieder abgeschmiert war und als die Qualitätsprobleme bei den Windrädern an Land (onshore) immer gravierender wurden.
Zu wenig kreditwürdig: Siemens Energy ruft nach Staatshilfe
Ende Oktober verlor die Aktie mehr als 35 Prozent, an einem einzigen Börsentag. Da wurde bekannt, dass der Vorstand mit seinen Hausbanken mitten in Verhandlungen steckte über milliardenschwere Staatsgarantien der Bundesregierung.
Siemens Energy sitzt auf einem prallvollen Auftragsbuch von mehr als 100 Milliarden Euro. Bei Großaufträgen ist es üblich, dass die Kunden relativ hohe Anzahlungen leisten. Gleichzeitig werden Banken gebraucht, die garantieren sollen, dass der Auftragnehmer – hier: Siemens Energy – diese Projekte auch wirklich fertig baut und danach den Service übernehmen kann.
Bis zur Abspaltung der früheren Tochter reichte den Banken, vereinfacht gesagt, die starke Bilanz des Siemens-Konzerns. Siemens selbst hatte bis zum Herbst 2020 ebenfalls Garantien übernommen, wollte danach aber keine neuen mehr eingehen. Inzwischen hat sich die Kreditwürdigkeit (die Bonität und das sogenannte Rating) von Siemens Energy aber so verschlechtert, dass die Banken zusätzliche Garantien forderten.
Ex-Mutter und Großaktionärin Siemens AG hält sich zurück
Am Wittelsbacher Platz in München, dem Konzernsitz der Siemens AG, gab man sich in den vergangenen Wochen zugeknöpft und einsilbig. Siemens-Chef Roland Busch tue so, als gingen ihn die Probleme der früheren Tochter mit weltweit 94.000 Beschäftigten nichts mehr an, meinten Beobachter. Immerhin hält der Konzern als Großaktionär noch gut 25 Prozent der Anteile.
Nach einer wochenlangen Hängepartie kam gestern Nachmittag die Bestätigung aus dem Bundeswirtschaftsministerium: Auf den Bund entfällt danach die Hälfte des gesamten Garantiebedarfs von 15 Milliarden Euro, nämlich genau 7,5 Milliarden. Weitere 3,5 Milliarden übernimmt ein Bankenkonsortium. Eine zusätzliche Garantielinie von einer Milliarde Euro entfällt auf private Banken, aber ohne Bürgschaft des Bundes. Abgesichert wird die über die Siemens AG. Im Schadensfall würde also zunächst der ehemalige Mutterkonzern in die Pflicht genommen.
Das Energietechnikunternehmen verhandele derzeit noch mit weiteren Anteilseignern über die restlichen drei Milliarden Euro - und auch mit anderen Ländern. Medienberichten zufolge ist unter anderem die spanische Regierung an diesen Gesprächen beteiligt. Wird das Paket letztlich angenommen - auch der Bundestag muss zustimmen -, dann darf Siemens Energy dem eigenen Vorstand keine Boni gewähren und auch keine Dividenden ausschütten, solange die Garantien laufen.
Profitiert Siemens vom Hilfspaket für Ex-Tochter?
Bleiben drei Milliarden Euro übrig bei diesem Paket. Aber dabei wird Siemens nur indirekt zur Kasse gebeten. Als Ex-Mutter übernimmt der Münchener Konzern ein größeres Paket an einem gemeinsamen Unternehmen in Indien. Vor allem das verschafft Siemens Energy etwas Luft in der tiefroten Bilanz. Für Siemens ist das kein echtes Opfer, sondern eher eine sinnvolle Entflechtung der Beteiligungen. Indien könnte das neue China werden. Und am Wittelsbacher Platz sieht man große Geschäftschancen zwischen Delhi und Mumbai. Außerdem wird Siemens Energy entlastet, weil die frühere Mutter jährlich auf 250 Millionen Euro für die Nutzung der Rechte an der Marke "Siemens" verzichten will, dafür aber Zinsen bekommt.
Ifo-Institut kritisiert staatliche Garantien für Siemens Energy
Das Forschungsinstitut Ifo steht den milliardenschweren staatlichen Hilfen zur Rettung von Siemens Energy kritisch gegenüber. Ifo-Chef Clemens Fuest sagte der Rheinischen Post, bei dem Energietechnik-Konzern gehe es nicht nur um Marktprobleme, sondern auch um Management-Schwächen: "Ich würde es deshalb für sinnvoller halten, wenn die Politik sich auf Eingriffe konzentriert, die die Marktprobleme angehen, statt Siemens Energy in dieser Lage zu stützen."
Als Alternative schlägt Fuest vor, den Ausbau der Windenergie durch staatliche Garantien zu fördern. Ein einzelnes Unternehmen zu unterstützen, halte er indes für fraglich.
Windkraftgeschäft: Preisdruck und steigende Kosten
Zurück zur Frage: Wie konnte es so weit kommen mit Siemens Energy? Auch andere Windkraft-Hersteller beklagen den Preisdruck der chinesischen Konkurrenten. Die Wettbewerbsbedingungen sind alles andere als fair. Weltweit leiden dazu alle Windanlagen-Anbieter unter steigenden Material- und Rohstoffkosten. In den Verträgen waren Festpreise vereinbart worden, also mussten auch unrentable Aufträge abgearbeitet werden. Erst nach und nach gelingt es bei den neuen Verträgen, höhere Preise bei der Kundschaft durchzusetzen.
Desaster beginnt mit Fusion mit spanischer Gamesa
Die Erklärung für das Desaster liegt in der Entstehungsgeschichte von Siemens Energy. 2017 wurde die Fusion mit Gamesa angebahnt. Der Windanlagenbauer aus Nordspanien gehörte damals zu Iberdrola und hatte sich auf Windanlagen an Land spezialisiert. Zusammen mit den Windrädern auf hoher See, die Siemens beisteuerte, sollte ein neuer Champion für Erneuerbare Energien entstehen.
Doch Iberdrola war von Anfang an ein schwieriger Partner für die Siemens-Manager. Siemens Gamesa war sogar bis Anfang Februar 2023 noch als eigenständiges Unternehmen an den spanischen Börsen notiert.
Immer wieder drängten Analysten und Fondsmanager auf eine komplette Übernahme, damit Siemens Energy "vollen Durchgriff" auf Gamesa bekommen sollte. Das geschah dann auch 2022 – und kostete noch einmal vier Milliarden Euro.
Teure Qualitätsmängel bei Windturbinen
Wenig später häuften sich die Meldungen über gravierende Qualitätsmängel vor allem bei den Windturbinen an Land. Nach dem Hochlauf der 5.X-Turbinen kam es zu Betriebsproblemen. Es ging um Unregelmäßigkeiten bei Rotorblättern, Hauptlagern und kleineren Komponenten.
Haben die Siemens-Manager damals vor der Übernahme von Gamesa nicht genau hingeschaut, welche Altlasten in Spanien lauerten? Oder entstanden diese erst danach? Weil es immer wieder auf Druck der Münchener zum Stühlerücken in Spanien kam, immer wieder Top-Manager gehen mussten und neue kamen, dürfte es jetzt schwer sein, die Verantwortlichen klar zu benennen. Joe Kaeser, damals CEO von Siemens und inzwischen Aufsichtsratschef von Siemens Energy, gilt als treibende Kraft hinter der Übernahme und Integration des spanischen Windanlagen-Herstellers.
Zwischenzeitlich sorgte auch das Offshore-Geschäft für negative Schlagzeilen. Termin- und Kostendruck könnten schuld daran sein, dass auch die Windräder auf hoher See Probleme machen, heißt es.
Siemens-Chef zweifelt am starken Wachstumskurs von Siemens Energy
Während der Vorstand noch versuchte, die Krise bei den Onshore-Anlagen in den Griff zu bekommen, wuchs das Geschäft insgesamt zu schnell.
Bei einer telefonischen Pressekonferenz vor einigen Monaten wurde Siemens-Energy-Chef Christian Bruch grundsätzlich: "Ich glaube, man muss vor allem sich hinterfragen, wie schnell kann so ein Geschäft wie wachsen? Und wie viele neue Produkte können Sie gleichzeitig einführen, mit welchen Vorphasen?" Wachstumsraten von 50 Prozent pro Jahr, das funktioniere eben nicht, so dringend Fortschritte bei der Energiewende auch seien.
Siemens Energy: Ist die Trennung von der Windkraft die Lösung?
Siemens Energy wäre besser dran, wenn es sich ganz von den Windrädern an Land verabschieden würde, meinen einige Beobachter. Und von den damals beschworenen Synergien zwischen Onshore und Offshore könne de facto nicht die Rede sein. Sogar von einer möglichen Zerschlagung von Europas größtem Energietechnikunternehmen war die Rede, bevor die Einigung mit den Banken und dem Bund bekannt wurde.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!