In SOS Kinderdörfern kam es jahrelang zu Übergriffen durch Erwachsene an ihnen anvertrauten Schutzbefohlenen. Zu diesem Ergebnis kommt eine unabhängige Kommission, die in München ein Gutachten vorgelegt und Handlungsempfehlungen gegeben hat. Die Organisation bittet um Verzeihung und will jetzt Strukturen etablieren, mit denen Kindern schneller und sicherer geholfen wird.
Betroffene: "Das haben viele gesehen"
"Wir reden hier von psychischer, aber auch körperlicher Gewalt." Isabella sitzt ganz ruhig da, als sie ausspricht, was sie im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren täglich erleben musste. Die heute 22-Jährige kam 2007 in das SOS Kinderdorf in Dießen am Ammersee. Gemeinsam mit fünf anderen Kindern ist sie bei einer sogenannten "Kinderdorfmutter" untergekommen, die rund um die Uhr für sie verantwortlich war.
"Ich hatte mit neun Jahren noch ein Töpfchen bei mir stehen", berichtet sie im Interview mit BR24, "weil ich die Mutter nicht stören durfte, während sie noch geschlafen hat." Wenn sie etwas "falsch gemacht" hätten, dann hätten die Kinder nachts auf dem Lattenrost schlafen müssen, weil die Dorfmutter ihnen die Matratze weggenommen habe, erzählt sie. Und auch am Esstisch sei es zu Gewalt gekommen: Wer nicht aufaß, habe das Essen püriert hingestellt bekommen und durfte so lange nicht bei den anderen Kindern sein, bis der Brei leergegessen war. Trinken bei Tisch sei komplett verboten gewesen.
Größter Kritikpunkt: Niemand hat etwas unternommen
Rund 200 solcher Fälle seit den späten 1970er-Jahren hat nun eine unabhängige Kommission aufgearbeitet. Ihr Vorsitzender, der Pädagoge und Kinderschutz-Experte Klaus Schäfer, bemängelt besonders: Unterlagen etwa über Beschwerden von Kindern habe die Einrichtung offenbar nicht gesammelt. Es sei zudem auffällig, dass viele der Fälle im Umkreis der Kinderdorfeltern auftauchten. Deshalb müsse an den 38 Standorten in ganz Deutschland dringend die Situation geprüft und verbessert werden. Bisher hätten Kinder insgesamt kaum Chancen gehabt, sich Hilfe zu holen.
Für Isabella war das Schlimmste, dass ihr und ihren Dorfgeschwistern niemand geholfen habe. Die Kinder hätten öfter Signale gesendet, um Hilfe gebeten, sogar den Dorfleiter direkt angesprochen, aber niemand habe etwas unternommen, berichtet sie. Ihre Erfahrung deckt sich mit dem, was in dem Gutachten steht: Einige der Dorfmütter würden für sich beanspruchen, die ihnen anvertrauten Kinder privat zu erziehen. "Als wären es ihre Kinder", sagt Schäfer. Da dürfe nichts nach außen dringen. Er fordert, dass die Erziehung in den Familien mehr öffentlich verstanden wird – wenn denn das Konzept überhaupt eine Zukunft habe.
Vereinsvorsitzende bittet um Verzeihung
Sabina Schutter, die Vorsitzende des Vereins SOS Kinderdorf, bittet für das Unrecht um Verzeihung. Bei der Vorstellung des Gutachtens sagte sie: "Wir sprechen explizit eine Einladung an Betroffene aus, sich an uns zu wenden. Auch an die, die sich noch nicht an uns gewendet haben."
Isabella hat sich bereits mit ihren Erfahrungen an SOS Kinderdorf gewendet. Sie sagt, sie habe das für sich und für ihre Geschwister gemacht. Bis heute arbeitet sie an ihrem Trauma, ist regelmäßig in Therapie und kann noch immer nicht richtig essen. "Aber ich denke, dass alles im Leben aus einem bestimmten Grund passiert", sagt sie. "Vielleicht ermutige ich ja auch andere, sich zu melden, wenn ihnen etwas Ähnliches passiert ist."
Im Video: SOS Kinderdörfer - Missbrauch über Jahrzehnte
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