Dieser Text ist Teil des Faktenchecks der BR24 Wahlarena vom 20.09.2023 mit Hubert Aiwanger (Freie Wähler) und erstmals am 21.09.2023 erschienen. Den Artikel finden Sie hier.
Die Behauptung:
Hubert Aiwanger, Freie Wähler: "Wir wollen, dass die jungen Leute wieder in Deutschland bleiben. Derzeit haben wir ja das Phänomen, dass viele Studierende nach dem Studium dann Deutschland verlassen, weil sie sagen, die Steuern sind zu hoch, die Bürokratie ist zu viel (…) Die Ärzte sind nach meiner Wahrnehmung eher zu wenige und da gilt dasselbe, was ich vorher zu Ihrem jungen Kollegen gesagt habe (…) Zu viele junge Ärzte verlassen Deutschland. Also Zahnärzte nach England, Zahnärzte in die Schweiz, nach Österreich und so weiter. Also wir müssen die Ärzte wieder in Deutschland lassen."
Der Kontext:
Ein Student aus dem Publikum fragt Aiwanger: "Was können Sie für junge Menschen wie mich und meine Freunde und Studenten bieten?" Daraufhin stellt Aiwanger die Behauptung auf, dass viele Studierende Deutschland aus bestimmten Gründen verließen. Eine Frau aus dem Publikum richtet wenig später die Frage an Aiwanger, was er gegen Ärztemangel unternehmen wolle. In Aiwangers Antwort ist die Behauptung mit der Abwanderung junger Ärzte enthalten.
Richtig oder falsch?
Da Aiwangers Behauptung eine subjektive Einschätzung ist ("viele Studierende", "zu viele junge Ärzte"), ist es nicht möglich, sie abschließend zu verifizieren oder zu widerlegen. Wir liefern deswegen den Kontext zu den Abwanderungszahlen, damit sich die Leserinnen und Leser ein eigenes Bild machen können.
Die Fakten:
Da die meisten Studierenden in Deutschland, nämlich 85 Prozent, auch die deutsche Staatsbürgerschaft haben (Stand 2022), beziehen sich alle folgenden Zahlen auf Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wanderten im Jahr 2022 knapp 270.000 Deutsche ins Ausland aus, es kamen aber auch Menschen zurück, so dass insgesamt eine Nettoabwanderung von 83.000 Personen entstand. Seit 2005 wanderten immer mehr Deutsche aus als ein. 2016 war die Nettoabwanderung am höchsten mit gut 135.000 Personen.
Mehrheit der deutschen Auswanderer hat Hochschulabschluss
Von den Auswanderern besitzen 76 Prozent einen Hochschulabschluss (Stand 2019). Das fanden die Autoren einer repräsentativen Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) und des Instituts für Soziologie der Universität Duisburg-Essen heraus. Für die Studie wurden 10.000 deutsche Auswanderer oder Rückkehrer befragt. Die Personen mit Hochschulabschluss waren damit unter den Auswanderern deutlich überrepräsentiert. In der Gesamtbevölkerung macht ihr Anteil nämlich nur 18,5 Prozent aus.
Hubert Aiwanger behauptete, dass hohe Steuern und Bürokratie in Deutschland die Akademiker zum Auswandern bringe. Diese Aussage ist schwierig zu be- oder widerlegen. Die Menschen, die Deutschland verließen, hätten meistens mehrere Gründe, sagte der Soziologe Marcel Erlinghagen bei der Vorstellung der erwähnten Studie: "Es liegt immer ein ganzes Motivbündel zugrunde, letztlich muss das Gesamtpaket stimmen. Innerhalb dessen spielen berufliche Gründe jedoch eine zentrale Rolle."
Hauptgrund fürs Auswandern: berufliche Gründe
58 Prozent der Befragten gaben berufliche Gründe für ihre Entscheidung an, weitere 29 Prozent nannten den Beruf von Partnerin und Partner als Grund für die Auswanderung. Dass sie unzufrieden mit dem Leben in Deutschland seien, sagten 18 Prozent. "Es gehen nicht die Verbitterten oder Enttäuschten, sondern diejenigen, die schon in Deutschland erfolgreich waren und den nächsten Karriereschritt planen", sagte Erlinghagen dazu.
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Ob die Menschen wegen der Steuern oder der Bürokratie aussiedelten, geht aus dieser Studie also nicht direkt hervor. Was sich aber sagen lässt: Die Auswanderer verdienten durchschnittlich mehr als in Deutschland. Der Nettoverdienst der Auswanderer stieg im Ausland im Schnitt um knapp 1.200 Euro an, zeigte die Studie – der Anstieg war bei Nicht-Akademikern genauso hoch wie bei Akademikern.
Studie: In Deutschland gibt es keinen "brain drain"
Eine dauerhafte Abwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften konnten die Studienautoren aber bei ihren Befragungsergebnissen nicht beobachten. Den sogenannten "brain drain" gebe es in Deutschland nicht, sagte der Politologe Andreas Ette vom BiB. Die Befunde deuteten eher auf eine "brain circulation" hin. Die Auswanderer blieben meist zeitlich befristet im Ausland und kehrten dann zurück. "Das heißt, die Hochqualifizierten kommen zurück – von einem dauerhaften Verlust können wir hier nicht sprechen", sagte Erlinghagen.
Zur Abwanderung junger Ärztinnen und Ärzte: Die Gesamtanzahl der berufstätigen Ärzte ist laut Statistik der Bundesärztekammer seit 2000 von knapp 300.000 auf gut 420.000 Personen gestiegen. Die Bundesärztekammer hat dem #Faktenfuchs auf Anfrage eine weitere Statistik zur Abwanderung von Ärztinnen und Ärzten zugeschickt, die bis zum Jahr 2008 zurückreicht. In diesem Zeitraum wanderten pro Jahr zwischen gut 3.000 (Höchststand) und knapp 1.700 Mediziner (Tiefststand) aus. Im vergangenen Jahr waren es 2.290 Ärztinnen und Ärzte, die die Bundesrepublik verließen. Es gibt gleichzeitig auch Zuwanderung aus dem Ausland, seit dem Jahr 2000 stieg die Anzahl der berufstätigen ausländischen Ärzte in Deutschland von knapp 12.000 auf knapp 60.000 an.
Allerdings wird in dieser Statistik nicht erfasst, wie alt die Auswanderer sind oder welcher Fachrichtung sie angehören. Aiwangers Aussage zu den "zu vielen" jungen, abwandernden Ärzten lässt sich also nicht belegen. Womit der Wirtschaftsminister aber Recht hat: Viele gehen in die Schweiz und nach Österreich, fast die Hälfte der Gesamtzahl waren es im vergangenen Jahr (1.006 von 2.290 Personen).
Anteil junger Ärzte in Deutschland bleibt relativ konstant
Aus der jährlichen Statistik der Bundesärztekammer zu den in Deutschland beschäftigten Ärzten lässt sich herauslesen, dass der Anteil der jungen Ärztinnen und Ärzte relativ konstant bleibt. Der Anteil der Unter-35-Jährigen an der gesamten Ärzteschaft betrug im Jahr 2000 18,8 Prozent. Dann sank der Wert bis 2005 auf den niedrigsten Stand in diesem Jahrtausend, nämlich 15,4 Prozent. Dann stieg der Wert wieder und bewegt sich seit knapp zehn Jahren meist zwischen 18 und 19 Prozent. Im Jahr 2022 waren wieder 18,8 Prozent der Ärztinnen und Ärzte jünger als 35 Jahre. Wie sich diese junge Ärzteschaft zusammensetzt, wer davon wo ausgebildet ist, zu- oder abgewandert ist, das lässt sich aber schlicht nicht sagen.
Die Bundesärztekammer betont generell in einer Stellungnahme zur Statistik, dass sie eine "beunruhigende Entwicklung" sehe. Sie benennt die demografische Entwicklung als hauptsächliche Ursache. Die Zahl der neu zugelassenen deutschen Ärzte sei in den vergangenen drei Jahren kontinuierlich gesunken. Außerdem seien fast die Hälfte aller Ärztinnen und Ärzte älter als 50 Jahre.
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