Laut einer aktuellen Untersuchung können in Bayern derzeit zehn Prozent der vorgesehenen Lehrerstellen an allgemeinbildenden Schulen nicht besetzt werden. Das teilt der bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband BLLV mit. Im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) und des BLLV hatte das Institut Forsa bundesweit gut 1.300 Schulleiterinnen und Schulleiter befragt, darunter auch 250 in Bayern. Das Ergebnis: Ihr Alltag besteht mittlerweile oft aus Mangelverwaltung.
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Lehrkräftemangel: Alltag an den Schulen
Um sieben Uhr morgens beginnt die Arbeit für Markus Rewitzer. Er ist Schuldirektor der Grund- und Mittelschule in Hausham am Schliersee im oberbayerischen Landkreis Miesbach. Auch heute muss Rewitzer eine Notlösung finden, weil sich Kolleginnen krankgemeldet haben. Gemeinsam mit seiner Konrektorin muss er eine schnelle Lösung finden.
Diese Lösung heißt Paula Steinsberger. Sie ist Studentin für Grundschullehramt im dritten Semester und soll heute fünf Schulstunden übernehmen, damit das komplexe Stundengebilde nicht in sich zusammenfällt. Es ist eine Notlösung – die Studentin, die eigentlich selbst noch etwas lernen soll, wird ins kalte Wasser geworfen. Aber ohne Paula Steinsberger müssten Klassen zusammengelegt oder die Schüler heimgeschickt werden. Beides ist schon vorgekommen.
So wie in Hausham suchen Schulen überall in Bayern nach Lösungen, um Lehrerausfälle zu kompensieren. "In der Spitzenzeit vor den Faschingsferien hatten wir acht kranke Lehrerkräfte, das kannst du nicht mehr auffangen", berichtet Rewitzer. "Da ist nur noch angesagt, alles zusammenzukratzen, was irgendwo geht, zu hoffen, dass das Schulamt noch eine mobile Reserve übrig hat, um uns zu unterstützen." Diese mobilen Reserven gibt es aktuell längst nicht immer.
Kultusminister: "Unterrichtsversorgung sicherzustellen ist Herausforderung"
"Dass es einen Ausfall mal einer Stunde gibt, hat es immer schon gegeben", sagt Bayerns Kultusminister Michael Piazolo. Trotzdem müsse man klar sagen: "Die Lehrerversorgung, die Unterrichtsversorgung sicherzustellen, ist eine Herausforderung, auch jedes Jahr. Wir berechnen das auch vorher immer, und unser Ziel ist es – und das haben wir in diesem Jahr solide entsprechend hinbekommen – diejenigen Stellen, die wir haben, auch zu besetzen."
Aber reicht das? Nach Informationen des BLLV sollen in Bayern 4.000 Lehrkräfte in Vollzeit fehlen. In ganz Deutschland sogar 32.000 bis 40.000. Zehn Prozent der Stellen in Bayern könnten nicht mit vollausgebildeten Lehrkräften besetzt werden, elf Prozent in ganz Deutschland. Um die Lücke zu schließen, behilft sich Bayern mit Quer- und Seiteneinsteigern, die gerade intensiv angeworben werden.
Warum gibt es nicht genügend Lehrer?
Aber woher kommt dieser Lehrermangel? Der Beruf "Lehrer" hat offenbar an Attraktivität eingebüßt: Laut Statistischem Bundesamt ist der Anteil der Lehramts-Studienanfänger bezogen auf die Gesamtzahl der Studienanfänger zurückgegangen: von mehr als elf Prozent vor 30 Jahren auf 7,6 Prozent.
Einerseits gibt es mehr Schüler und Schülerinnen – auch durch Zuwanderung. Andererseits kommen zu wenig neue Lehrkräfte nach. Die Gründe sind verschieden. Für Franziska Funk aus München ist es das in ihren Augen starre und unflexible System. Funk hat ihr Grundschulstudium mit der Note 1,8 abgeschlossen. Damit hätte sie die Möglichkeit, verbeamtet zu werden – ein sicherer Job, private Rentenversicherung und eine sehr gute Pension. Trotzdem wollte sie das nicht.
Kultusminister: Zwiespalt bei den Lehrkräften
Ein Grund dafür sind auch die vielen Quereinsteiger mit Hochschulstudium, die man gezielt versucht, für den Schulbetrieb zu gewinnen. Kultusminister Piazolo weiß um das Problem: "Es ist natürlich auch ein Zwiespalt bei den Lehrkräften, die jetzt in der Schule sind und die mitbekommen, da kommt ein Quereinsteiger", erläutert er. "Das kann ich nachvollziehen. Deshalb ist auch unser Weg in Bayern: Der Quereinsteiger kommt ins Referendariat – das sind Menschen die ein volles Studium haben und die müssen dann auch das zweite Staatsexamen machen."
Die Lehrerin Franziska Funk hinterfragt diese Vorgehensweise: "Sind wirklich Menschen, die keine Pädagogik haben oder sich nie damit konfrontiert haben, geeignet, um Schülerinnen und Schüler zu unterrichten?" In ihren Augen nicht. Aus diesen Überlegungen heraus hat Funk sich entschieden, an der Uni zu promovieren. Nebenher jobbt sie in einer Mittelschule – als Teilzeitkraft. Als ausgebildete Grundschullehrerin darf sie aber nur in die untersten Klassenstufen.
Denn als Grundschullehrkraft werde sie vom Kultusministerium nicht als Gymnasiallehrerin für Politik genehmigt, da ihr bestimmte Ausbildungs- oder Studienleistungen fehlten, erklärt Funk. "Aber jemand, der Politikwissenschaft studiert, kann als Gymnasiallehrer einsteigen. Das ist so etwas, das ich nicht nachvollziehen kann", kritisiert sie.
Die Studentin Paula Steinsberger, die die Grundschulklasse in Hausham übernimmt, hat immerhin schon drei Semester Pädagogik hinter sich. "Es ist schon eine außergewöhnliche Situation, dass man eine Studentin im dritten Semester vor eine ganze Klasse ganz alleine stellt. Das legt das Problem ja nahe", sagt Steinsberger. "Am besten wäre es, wenn man immer zwei Lehrkräfte in jeder Klasse hätte, weil es viel entspannter und strukturierter ablaufen würde.
Bildungsrückstände schwer aufzuholen
In 'ihrer' Klasse sind bei den Schülern allein durch Corona enorme Lernrückstände entstanden: Im Fach Deutsch hängen die Viertklässler rund ein halbes Jahr zurück, in Mathe ist es ein Vierteljahr. Um schwächeren Kindern zu helfen, ist an der Grund- und Mittelschule in Hausham die Grundschullehrerin Simone Brendel als Tandemlehrerin in einer Ganztagesklasse mehrere Stunden in der Woche zu zweit im Unterricht eingeteilt: im sogenannten Differenzierungsunterricht.
Aber viel zu oft fällt dieser Unterricht aus. "Wenn die Differenzierungsstunden ausfallen, dann geht es natürlich auch wieder an den Kindern aus, weil wir nicht die Zeit haben, die Kinder individuell zu fördern", sagt Simone Brendel. Das sei wiederum ein Teufelskreis: Die Lehrer müssten vertreten, gerieten dadurch in zusätzlichen Stress und die Kinder erhielten zu wenig Förderung.
Schuldirektor: "Lehramt muss attraktiver werden"
Die Wissenslücken nehmen die Schüler dann mit in die weiterführenden Schulen – etwa die Mittelschule. Dort ist der Lehrermangel besonders gravierend. "Wenn wir uns da behaupten wollen, muss das Lehramt an sich, gerade im Mittelschulbereich, attraktiver werden und nicht unattraktiver", erläutert Schulleiter Rewitzer. "Sonst verstehe ich jeden, der sagt: 'Ach, die schwierigsten Kinder, die größten Unterrichtsverpflichtungen, das wenigste Geld – super, das mache ich!'. Da verstehe ich jeden, der sagt: 'Da schaue ich mich nach einer Alternative um.'"
Auffangen kann die Schule den Lehrermangel langfristig nicht. Wenn nicht schnell gegengesteuert wird, müssen heutige und künftige Schüler mit einer deutlichen Beeinträchtigung ihrer Lebens- und Bildungschancen rechnen, bilanziert Rewitzer: "Wir müssen – ob es uns gefällt oder nicht – hinnehmen, dass wir in der Bildung unserer Kinder Abstriche machen müssen. Alles andere wäre gelogen."
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