Knapp die Hälfte der Bevölkerung in Europa wird derzeit laut Statistik bis zum jungen Erwachsenenalter kurzsichtig. In den hochentwickelten Regionen Asiens sind es sogar schon 80 Prozent. Weltweit gesehen ist der Anteil Kurzsichtiger zwar noch nicht so erschreckend hoch. Laut einer jetzt veröffentlichten Studie lag er 2020 schätzungsweise zwischen 30 und 34 Prozent. Er wird aber bis 2050 auch weltweit - so die Prognose - auf 50 Prozent ansteigen.
Kurzsichtigeit durch Wachstum des Augapfels
Umso wichtiger ist es, schon früh die Kurzsichtigkeit, auch Myopie genannt, effektiv zu behandeln. Bei Kindern können Atropin-Augentropfen - bei richtiger Dosierung - die Entwicklung von Kurzsichtigkeit verzögern. Das haben bereits mehrere Studien bewiesen. Ein übermäßiges Wachstum des Auges, die Ursache für Kurzsichtigkeit, wird durch den Wirkstoff verlangsamt. Oliver Ehrt, Leiter der Strabismologie, Kinder- und Neuroophthalmologie der Augenklinik des LMU Klinikums München und Wolf A. Lagrèze, Leitender Arzt der Sektion Neuroophthalmologie, Kinderophthalmologie und Schielbehandlung am Universitätsklinikum Freiburg erklären, für welche Kinder die Therapie in Frage kommt, was an der aktuellen Studie erstaunt und worauf Eltern achten sollten.
Für welche Kinder ist eine Behandlung mit Atropin-Tropfen empfehlenswert?
Die beiden Augenärzte und Spezialisten für Kinder-Augenheilkunde empfehlen die Behandlung mit Atropin-Tropfen für Kinder, deren Kurzsichtigkeit pro Jahr um 0,5 Dioptrien oder mehr zunimmt. Denn: Atropin-Tropfen können das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit bei Kindern lediglich bremsen: "Sie führen nicht dazu, dass sich eine bestehende Kurzsichtigkeit zurückentwickelt", erklärt der Münchner Augenarzt Ehrt. Kinder mit einer stabilen Kurzsichtigkeit würden laut Ehrt nicht von Atropin-Augentropfen profitieren.
Der Freiburger Augenarzt Lagrèze empfiehlt die Tropfen für Kinder mit fortschreitender Kurzsichtigkeit zwischen sechs und 14 Jahren. Er betont aber: "Kurzsichtigkeit schreitet am stärksten im Grundschulalter voran. Daher ist die Therapie in dieser Altersgruppe am effektivsten".
Welcher Behandlungserfolg kann mit Atropin-Tropfen erzielt werden?
Bei der jetzt veröffentlichten Studie waren die dort untersuchten Kinder innerhalb des Untersuchungszeitraums von drei Jahren nur um ein Viertel Dioptrien weniger kurzsichtig als die Kinder der Vergleichsgruppe, die nicht mit den Tropfen behandelt wurden. In früheren Studien waren die Effekte wesentlich größer.
Auch aus der Praxis können die beiden Augenärzte bestätigen, dass die Augentropfen bei kurzsichtigen Kindern einen positiven Effekt haben. Bei Kindern, die mit Atropin-Tropfen behandelt wurden, zeigte sich, dass das "Fortschreiten der Kurzsichtigkeit etwas geringer wurde", wie der Münchner Spezialist Ehrt es formuliert. Genauere Ergebnisse versprechen sich die Forscher von der sogenannten AIM-Studie, die der Freiburger Augenarzt Lagrèze leitet. An ihr sollen besonders viele Kinder teilnehmen.
Aktuelle Studie zeigt geringere Wirksamkeit der Atropin-Tropfen: Woran könnte das liegen?
Der Freiburger Augenarzt Lagrèze ist "erstaunt über die geringe Wirksamkeit" der Atropin-Tropfen, die in der jetzt veröffentlichten Studie bei kurzsichtigen Kindern gezeigt wurde. Woran das liegt, ist nicht ganz klar. Die ethnische Herkunft der Kinder könnte eine Rolle spielen, wurden doch bei den bisherigen Studien vorwiegend asiatische Kinder beobachtet. In der neuen Studie waren hingegen über 50 Prozent der teilnehmenden Kinder europäischer Abstammung.
Es könnte aber auch an den unterschiedlichen Lebensgewohnheiten liegen, sagt der Münchner Augenarzt Ehrt. So wisse man von asiatischen Kindern, dass sie ein sehr strenges, sehr intensives Schulsystem haben, wo wenig Zeit für Freizeit an Tageslicht gegeben sei, erklärt der Mediziner, "und dass vielleicht in dieser Gruppe, die ein sehr hohes Risiko hat, die Kurzsichtigkeit zu entwickeln - aufgrund des Verhaltens viel drinnen zu lernen - eventuell das Atropin stärker wirkt als bei Kindern, die von Haus aus vielleicht schon mehr draußen sind."
Wie sind die Tropfen bei Kindern anzuwenden? Dosierung, Zeitraum, Zeitpunkt
Bei hell pigmentierten Kindern mit blauen oder grünen Augen sei eine Konzentration von 0,01 Prozent erfolgversprechend, bei dunkelpigmentieren Kindern mit dunkelbraunen Augen kann die Konzentration wegen der dunkleren Iris auf 0,05 Prozent gesteigert werden, sagt der Freiburger Lagrèze. "Die Therapie dauert meistens zwei Jahre. Die neusten Daten aktueller Studien zeigen jedoch, dass die Effektivität im ersten Jahr der Therapie am höchsten ist und dann abnimmt". Um Nebenwirkungen möglichst gering zu halten, sollten die Tropfen konservierungsmittelfrei sein und abends vor dem Zu-Bett-Gehen getropft werden.
Welche Nebenwirkungen können Atropin-Tropfen haben?
Eine Nebenwirkung der Tropfen ist, dass sich die Pupillen erweitern - was aber harmlos sei, sagt der Freiburger Augenarzt. Andere vereinzelt auftretende Nebenwirkungen der Tropfen sind: kurzfristiges unscharfes Sehen und ein "Geblendetsein" am Morgen nach der Tropfengabe.
Warum ist die Vermeidung von Kurzsichtigkeit so wichtig?
"Kurzsichtigkeit ist neben dem Risikofaktor hohes Lebensalter die häufigste Ursache für degenerative Augenerkrankungen in der zweiten Lebenshälfte. Ab minus zehn Dioptrien steigt das Risiko für Netzhauterkrankungen stark an. Daher ist es das Ziel der Augenheilkunde, hohe Myopie, also mehr als minus sechs Dioptrien zu vermeiden", erklärt Wolf A. Lagrèze vom Universitätsklinikum Freiburg.
Was kostet eine Behandlung mit Atropin-Tropfen?
Bisher gibt es die Tropfen nicht in der für kurzsichtige Kinder notwendigen verdünnten Menge als fertiges Präparat. Die Tropfen müssen daher für sie von den Apotheken verdünnt werden. Die Behandlungskosten variieren je nach Apotheke. Laut dem Münchner Augenarzt Ehrt können diese - wenn die Tropfen in großen Mengen produziert werden - unter 100 Euro im Jahr betragen.
Werden die Atropin-Augentropfen für Kinder von den Krankenkassen ersetzt?
Die Atropin-Tropfen, wie sie kurzsichtigen Kindern verabreicht werden sollen, werden derzeit nicht von den gesetzlichen Krankenkassen ersetzt. Zur Begründung heißt es seitens des GKV-Spitzenverbandes: "Das Arzneimittel Atropin ist für die Therapie von Kurzsichtigkeit bei Kindern derzeit in Deutschland nicht zugelassen. Daher ist es keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung." Gemeint ist damit: Bei der verdünnten Gabe der Tropfen handelt es sich um einen sogenannten "Off-Label-Use" - eine Anwendung außerhalb der zugelassenen Indikation.
Eine Zulassung der Atropin-Tropfen für die Anwendung bei kurzsichtigen Kindern könnte zumindest in den USA schon bald folgen. Die jetzt veröffentlichte Studie war eine sogenannte Zulassungsstudie, eine Voraussetzung für die Freigabe in den USA. Wann und ob eine Zulassung eines Präparats für Kinder in Europa erfolgt, sei "noch nicht entschieden", sagt der Münchner Augenarzt Ehrt.
Wie können Eltern Kurzsichtigkeit bei ihren Kindern vorbeugen?
Der Rat der beiden Augenärzte für Eltern: Um Kurzsichtigkeit vorzubeugen, sollten Kinder etwa zwei Stunden am Tag draußen sein. Denn: Tageslicht sei das Allerwichtigste, sagt Ehrt. "Das ist ein Effekt, der in vielen Studien schon sehr erfolgreich gezeigt wurde: Dass Tageslicht, also das helle Licht, das man draußen hat, das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit einbremst".
Außerdem: Die "Online-Zeit" an Computern, Tablets oder Handys limitieren, wie der Freiburger Lagrèze sagt. Und: Eltern sollten darauf achten, dass der Leseabstand mindestens 30 Zentimeter beträgt und dass die Kinder bei ihrer Beschäftigung am Computer oder beim Lesen nach ein, zwei Stunden eine kurze Pause machen und immer mal wieder in die Ferne und nicht auf nahe Gegenstände schauen.
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