Für die Menschen in China bedeutete das Leben mit dem Coronavirus bisher: Immer wieder Lockdowns, Zwangsquarantäne, Massentests, Kontaktverfolgung. Seit 7. Dezember 2022 hat sich das geändert. Chinesen dürfen wieder reisen, Tests sind freiwillig, Infektionen werden nicht mehr nachverfolgt, stattdessen Infizierte, die keine oder nur leichte Symptome zeigen, wieder zur Arbeit geschickt. Als Grund für das abrupte Ende der bis dahin strikten Null-Covid-Strategie gibt die politische Führung in Peking an, dass die Infektionen mit den neuen Omikron-Varianten nicht mehr so schwer verliefen wie bei den vorherigen Virusvarianten. Tatsächlich sind es wohl vor allem wirtschaftliche und politische Gründe, die China zu diesem Schritt gezwungen haben.
Doch welche Folgen hat die plötzliche Öffnung nach rund drei Jahren strikter Corona-Beschränkungen im bevölkerungsreichsten Land der Erde für die Menschen dort, aber auch für Europa? Wie Experten die Lage einschätzen.
Eine Million Covid-Tote in China - realistisch oder Horrorszenario?
Seit dem abrupten Ende der Null-Covid-Strategie sind die Infektionszahlen in China stark angestiegen. Nach Recherchen der ARD in China sind die Krematorien in Peking überlastet, haben deutlich mehr zu tun als normalerweise. Laut Hochrechnungen, die in der Fachzeitschrift "Nature" veröffentlicht wurden, könnte es innerhalb der nächsten Monate bis zu einer Million Corona-Tote in China geben.
Für Rolf Apweiler, Direktor des European Bioinformatics Institute des Europäischen Laboratoriums für Molekularbiologie (EMBL) in Cambridge, ist das ein durchaus realistisches Szenario, gerade weil bei den über 60-Jährigen in China die Impfquote zu niedrig sei. "Das heißt, das sind 100 Millionen, die einfach keinen anständigen Schutz haben. Und man kann schon davon ausgehen, dass dort eine Mortalitätsrate von einem Prozent eine realistische Größenordnung ist. Und das heißt halt: Eine Million allein aus dieser Altersgruppe", erklärt der Bioinformatiker.
Kaum geboostert, schlecht geschützt - das Problem der Chinesen
Viele Chinesen sind zwar geimpft, meist aber nur zweimal. Und - weil ausländische Impfstoffe aus politischen Gründen nicht zugelassen sind - nur mit den weniger wirksamen chinesischen Impfstoffen. Insbesondere die älteren Menschen sind schlecht geschützt. Laut Agenturmeldungen haben in China aktuell nur 70 Prozent der über 60-Jährigen und 40 Prozent der Menschen über 80 eine dritte Impfung, die sogenannte Booster-Spritze, erhalten.
Lockerungen in China: "Keine unmittelbare Gefahr für Europa"
In China könnte es aufgrund der Lockerungen vor allem um den 22. Januar, dem chinesischen Neujahrsfest, zu einer Infektionswelle kommen. Mehrere Hundert Millionen Menschen reisen dann quer durchs Land, um in ihren Heimatdörfern den Jahreswechsel traditionell mit ihren Familien zu feiern. Diese Massenbewegung könnte zu einem Superspreader-Event werden, glaubt auch Rolf Apweiler, Wissenschaftler in Cambridge.
Trotzdem sieht Reinhold Förster, Infektiologe an der Medizinischen Hochschule Hannover, dadurch keine unmittelbare Gefahr für uns in Europa. Denn auch in China herrschten die Omikron-Subtypen vor, die unser Immunsystem durch Impfungen und Infektionen vielfach schon kenne, sagt der Infektiologe. Ein Problem sieht Förster aber, wenn das Virus auf viele Menschen trifft, deren Immunsystem den Erreger - aufgrund fehlender Impfung oder Infektion - noch nicht kennt. Da könnten sich dann neue Varianten entwickeln, erklärt er. "Und da besteht dann potentiell auch die Gefahr, dass dann Varianten entstehen, die auch uns wieder sehr leicht infizieren und sehr krank machen können.” Dass sich neue Varianten entwickeln, die unseren Immunschutz komplett umgehen, hält Förster aber lediglich für theoretisch denkbar, tatsächlich für nicht sehr wahrscheinlich.
Virologin Protzer: Welle in China durch Impfungen verhindern
Selbst wenn eine Infektionswelle in China losrollt, ließen sich laut Ulrike Protzer, Virologin an der TU München, die Folgen dort vor allem durch mehr Impfungen abfedern. "Wenn man vier bis acht Prozent der Bevölkerung boostern könnte, dann würde das schon eine erhebliche Reduktion ausmachen. Berechnungen sagen: Bis zu 300.000 Todesfälle weniger von jetzt bis April", sagt die Münchner Virologin. Ein weiterer wichtiger Punkt, um die Infektionszahlen zu reduzieren, sei der frühe und schnelle Einsatz von wirksamen Medikamenten, wie zum Beispiel Paxlovid, erklärt die Medizinerin.
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