Wir sind umgeben von Chemikalien: Desinfektionsmittel in Hautcremes, Flammschutzmittel in Elektrogeräten, Abrieb von Autoreifen, sogar noch das seit fünfzig Jahren verbotene, aber sehr schwer abbaubaren Insektizid DDT. Für viele dieser Chemikalien gibt es zulässige Höchstmengen, beispielsweise ein Tausendstel der Menge, die in Versuchen schädlich wirkt. Jetzt zeigen aber zwei Studien: Dieser "Sicherheitsabstand" reicht womöglich nicht.
Chemikalien-Mix aus Blutproben schädigt Nerven
Was ist die typische Chemikalien-Mischung im Blut in Deutschland? Diese Frage ließ sich durch die Analyse von Blutproben klären, die das Umweltforschungszentrum Leipzig für eine Mutter-Kind-Studie gesammelt hat. Einige typische Mischungen hat das Team um die Umwelttoxikologin Beate Escher für Laboruntersuchungen nachgestellt, um in einer Studie (externer Link) zu ermitteln, welche Auswirkungen sie auf unser Nervensystem haben.
Es zeigte sich: Obwohl die einzelnen Bestandteile viel zu gering konzentriert waren, um Schaden anzurichten, schädigten diese Mischungen in Zellkulturen die Neuriten – fadenartige Verbindungen, die Signale zwischen Nervenzellen übertragen. Solche Schäden bei ungeborenen Kindern könnten später unter anderem das Immunsystem schwächen.
"Die Konzentrationen und Effekte dieser vielen Stoffe in ganz kleinen Konzentrationen wirken additiv", erklärt Beate Escher. Und zwar trotz unterschiedlicher Wirkmechanismen. Das ist Beate Escher besonders wichtig, denn: "Nur Stoffe, die strikt den gleichen Wirkmechanismus haben, werden zusammen reguliert", das heißt: Nur solche Stoffe werden für Grenzwerte zusammen betrachtet.
Schutz vor Schäden durch vielfältige Chemikalien-Mischungen?
Eine Chance für neue Regelungen zum Schutz vor der additiven Wirkung ganz unterschiedlicher Stoffe sind die Verhandlungen zur Neufassung der EU-Chemikalien-Verordung REACH (externer Link) . Es liegt der Vorschlag auf dem Tisch, einen "Mixture Allocation Factor" festzulegen. So ein Mischungsfaktor würde den Sicherheitsabstand zwischen der schädlichen Konzentration, die im Tierversuch ermittelt wurde, und einer in der Umwelt akzeptablen Konzentration nochmal vergrößern.
Nötig wäre ein solcher Mischungsfaktor nur für Stoffe, von denen man weiß, dass sie die Wirkung von Mischungen nach oben treiben. "Oft sind es nur zwanzig Prozent der Chemikalien, die achtzig Prozent des Effekts bewirken", erklärt Beate Escher. Ob die Chemikalienverordnung um einen Mischungsfaktor ergänzt wird und wie hoch er gegebenenfalls liegt, wird derzeit noch verhandelt.
Wirkung winziger Konzentrationen – eine Ursache für das Insektensterben?
Neben den Mischungen gibt es eine weitere "blinde Stelle" bei der Risikobewertung von Chemikalien: die nicht-tödliche, dennoch schädliche Wirkung auf Tiere. Eine Studie am European Molecular Biology Laboratory Heidelberg (externer Link) untersuchte diesen Effekt für rund 1.000 Agrarchemikalien an Fruchtfliegen-Larven, also den kleinen Maden, die man im Sommer manchmal im Biomüll findet.
Der Molekulabiologe Lautaro Gandara mischte die Substanzen zunächst einzeln ins Futter der Maden – in umwelttypischen, also sehr geringen Konzentrationen. Die meisten waren auch keine Insektizide, sondern zum Beispiel Mittel gegen Unkraut oder Pilzinfektionen, Wachstumsregulatoren und ähnliches. Dennoch zeigte mehr als die Hälfte der Stoffe eine Wirkung: Die Larven krümmten sich oder rollten hin und her. Das ist ein Zeichen von Stress. Es hindert die Larven daran, genug zu fressen, sodass sie geschwächt werden.
In einem weiteren Fütterungsexperiment ging es wieder um eine Mischung: diesmal von den neun häufigsten Agrarchemikalien in Deutschland, in umwelttypischen Konzentrationen. "Die Larven fraßen viel weniger als die unbelastete Vergleichsgruppe", berichtet Lautaro Gandara, "und später legten die Fliegen weniger Eier. Das kann die Überlebensfähigkeit einer Population gefährden. Denn wenn die Tiere weniger Eier legen, bricht die Population irgendwann zusammen". Solche nicht tödlichen Chemikalienwirkungen könnten also zum Insektensterben beitragen.
Lautaro Gandara schlägt vor, aus seinem Experiment einen Routinetest zu machen. "Dieser Test ist ziemlich effizient, was Kosten und Zeitaufwand betrifft. Man könnte sie in die Risikobewertung einbeziehen, ohne, dass Lebensmittel unbedingt teurer werden. Behörden würden wahrscheinlich Arten mit großer ökologischer Bedeutung testen, wie Bestäuber, Bienen, Schmetterlinge – entscheidend ist nur, dass es repräsentative Arten sind." Repräsentativ für die nicht-tödliche Wirkung einer großen Zahl von Chemikalien auf Insekten, die in bisher unbekanntem Ausmaß unter selbst geringsten Konzentrationen leiden.
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