Laut Prognosen könnte 2023 das heißeste Jahr der letzten 125.000 Jahre werden. Und doch bleiben die weltweiten Bemühungen im Klimaschutz weiter hinter den Zielen zur Begrenzung der Erderwärmung zurück. Das zeigt der aktuelle Bericht "State of Climate Action" des World Resources Institute. Nahezu alle Sektoren, wie etwa Energie, Industrie oder Landwirtschaft, machen wenig Hoffnung darauf, dass die Erwärmung noch auf 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen ist. Das verheißt nichts Gutes – auch für die Gletscher in den Alpen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts bereits rund die Hälfte ihres Gesamtvolumens eingebüßt haben.
Weltklimarat: Alpengletscher unterhalb von 3.500 Metern werden verschwinden
In jüngster Zeit hat sich die Schmelze noch merklich verstärkt. So wird erwartet, dass sich bis zum Ende des Jahrhunderts das Eisvolumen in den Alpen im Vergleich zu 2017 noch einmal halbiert. Der Weltklimarat warnt, dass alle Alpengletscher, die unterhalb einer Höhe von 3.500 Metern liegen, bis dann verschwunden sein werden. Nur in den höchsten Regionen der Westalpen, die weit über 4.000 Meter liegen, könnte das ewige Eis möglicherweise bis ins nächste Jahrhundert bestehen bleiben.
Gletschereis: Ein unbezahlbares Daten-Archiv
Es ist daher auch ein Wettlauf gegen die Zeit, was Glaziologen bei ihrer Arbeit an und mit den Gletschern tun: Sie schälen Bohrkerne aus den Eismassen heraus und legen somit ein Archiv an historischen Klima- und Umweltdaten frei, das in der Form einzigartig ist: "Das ist eigentlich unbezahlbar, weil: Sobald das Eis verschwunden ist, gibt es das nicht mehr", sagt der Glaziologe Martin Stocker-Waldhuber von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (OAW) Innsbruck.
Um Eisproben zu entnehmen, die durch die Kompression aufeinanderfolgender Schneeschichten über Jahrhunderte hinweg entstanden sind, verwenden Glaziologen eine Kernbohrung. Dabei wird ein vertikaler Schnitt mittels eines Bohrers durchgeführt, der einem stählernen, schraubenförmigen Rohr mit Schneidklingen ähnelt. Dieses Stahlrohr wird durch seine Rotationsfunktion in das Eis getrieben. Sobald es mit Eis gefüllt ist, wird das Rohr herausgezogen, das nun einen als Eisbohrkern bekannten Eiszylinder enthält. Die Eisbohrkerne werden nummeriert und in Schutzhüllen mit Angaben zu Entnahmeort und -tiefe verpackt, dann in isothermischen Boxen für den gekühlten Transport gelagert.
Eisbohrkerne: Einblick in bis zu 800.000 Jahre Klimageschichte
Gemeinsam mit Martin Stocker-Waldhuber arbeitet Andrea Fischer an dem wertvollen Klimaarchiv: "Das Gletschereis enthält viele Luftblasen. Deswegen ist es auch ein fantastisches Archiv, weil wir damit die Luft der Vergangenheit direkt analysieren können", sagt die Glaziologin.
Durch die Analyse von Gletschereis, das einen Einblick in bis zu 800.000 Jahre Klimageschichte möglich machen kann, in den Alpen jedoch höchstens in bis zu 10.000 Jahre, können Wissenschaftler die Luftverschmutzung vergangener Zeiten nachvollziehen. Sie suchen dabei nach Indizien für menschliche Aktivitäten, die klimatische Veränderungen verursacht haben könnten.
Antikes Rom: Gletschereis speichert Daten zur damaligen Luftverschmutzung
Die im Eis gefundenen Rückstände von Nitrat, Ruß, Sulfat, Blei und anderen Elementen geben Aufschlüsse, die in historischen Aufzeichnungen oft nicht zu finden sind: So zeigte sich zum Beispiel, dass bereits im antiken Rom erhebliche Luftverschmutzung durch giftiges Blei aus dem Bergbau verursacht wurde. Erst nach dem Niedergang des Römischen Reichs verbesserte sich die Luftqualität wieder.
Klima-Vergangenheit: Vergangene Feinstaubwerte im Gletschereis
Eisbohrkerne erlauben es also zunächst, unter anderem vergangene Ökosysteme zu analysieren. Doch die Forschung bleibt hier nicht stehen. So sind zum Beispiel die Daten über die frühere Verschmutzung der Atmosphäre durch Feinstaub rar, was wiederum die Genauigkeit aktueller Klimamodelle einschränkt. Hier ermöglichen es die Eisbohrkerne, Feinstaubkonzentrationen rückblickend zu ermitteln und so die Annahmen in den Klimamodellen zu korrigieren. Dadurch können deutliche Verbesserungen in den Modellierungen erzielt werden, was insbesondere für regionsspezifische Klimaprognosen von großer Bedeutung ist. Diese präziseren Modelle sind entscheidend, um die potenziellen Temperaturanstiege und deren unterschiedliche Auswirkungen in den nächsten 100 Jahren besser vorhersagen zu können.
Im Video: Forscherteam will Proben aus uraltem Eis vom Gletscher holen
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