Kippelemente markieren kritische Schwellen im Klimasystem, an denen geringfügige Ursachen drastische Veränderungen für das gesamte Klima bewirken können. Vergleichbar ist das mit einer Tasse, die Stück für Stück an den Rand eines Tisches geschoben wird. Jedes Mal rückt sie nur ein kleines bisschen voran, am Ende dann reicht ein winziger Schubs, bis sie schließlich fällt. Das Bild verdeutlicht: Gehen Veränderungen im Klimasystem einmal über so einen Kipppunkt hinaus, können die Auswirkungen irreversibel sein und sich sogar selbst verstärken. Die globale Erwärmung, verursacht durch den menschengemachten CO2-Ausstoß, ist der Hauptgrund für die Überschreitung solcher kritischer "tipping points".
Klimaforschung: Unklarheit über die Anzahl der Kipppunkte
Wie viele dieser Kipppunkte es genau gibt, darüber ist sich die Forschung uneinig. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung jedenfalls führt 16 solcher Kipppunkte auf, von denen neun als globale und sieben als regionale Kippelemente definiert werden. Die Helmholtz-Klima-Initiative hingegen führt insgesamt 14 solcher kritischen Schwellen auf. Sieben von ihnen sehen die Helmholtz-Forschenden bereits bei einer Erderwärmung von bis zu zwei Grad über dem vorindustriellen Niveau als erreichbar an, sieben weitere erst ab einer Erwärmung von über zwei Grad.
Besonders gefährdet: Das Eisschild in der Westantarktis
Weitgehende Einigkeit besteht in Bezug auf den Westantarktischen Eisschild. Das bestätigt auch Gerrit Lohmann, Leiter der Arbeitsgruppe Dynamik des Paläoklimas am Alfred-Wegener-Institut und Professor an der Universität Bremen für den Fachbereich Physik des Klimasystems. Die geografische Struktur macht den Eisschild schon heute anfällig. Sollte sich das Eis infolge wärmeren Ozeanwassers zurückziehen, kann ein selbstverstärkender Prozess einsetzen, der den Eisverlust noch weiter beschleunigt.
Der kritische globale Temperaturanstieg, der diesen Kippprozess auslösen könnte, werde auf zwei bis vier Grad geschätzt. "Das ist für den Meeresspiegel wahrscheinlich der entscheidende Kipppunkt", sagt Lohmann. Ein komplettes Abschmelzen des Westantarktischen Eisschildes würde den globalen Meeresspiegel um mehr als drei Meter erhöhen.
Im Video: Nord- und Südpol leiden unter dem Klimawandel
Kipppunkt mit globaler Bedeutung: Der Amazonas-Regenwald
Neben Eiskörpern wie dem Westantarktischen Eisschild oder auch dem Grönländischen Eispanzer, bei dem das Schmelzen laut Gerrit Lohmann nicht ganz so schnell und gravierend vorangehe wie in der Westantarktis, gibt es auch stark gefährdete Ökosysteme: Globale Bedeutung hat hier etwa der Amazonas-Regenwald. Er ist nicht nur ein Teil der Biosphäre Südamerikas, sondern spielt aufgrund seiner Wasser- und Kohlenstoffkreisläufe eine zentrale Rolle im gesamten Erdsystem. Veränderte Niederschlagsmuster in einem wärmeren Klima, kombiniert mit Abholzung und Bränden, könnten den Wald an einen kritischen Punkt bringen. Die Region könnte sich in eine Savannenlandschaft verwandeln. Dabei würde viel CO2 freigesetzt, das bisher in dem Ökosystem gespeichert ist. Das könnte die Erwärmung noch zusätzlich anheizen.
Eine Auswahl weiterer gefährdeter Eiskörper und Ökosysteme mit globaler Bedeutung:
- die Zerstörung von Korallenriffen
- das Auftauen der Permafrostböden
- das Abschmelzen des arktischen Meereises
Im Video: Das passiert, wenn der Permafrostboden taut
Kritik an Kipppunkt-Konzept: Zeiträume oft unklar
Es gibt jedoch auch Bereiche, bei denen die Gefahr eines Kippens mittlerweile in Zweifel gezogen wird: Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung führt hier unter anderem die Verschiebung des indischen Sommermonsuns oder den Sauerstoffverlust im Ozean auf.
Vor allem die Prognosen, wann und unter welchen Bedingungen ein Kipppunkt erreicht ist, bereiten Probleme. Weil in die Szenarien dafür viele verschiedene Faktoren einfließen, sind sie mit vielen Unsicherheiten belastet. Das verdeutlicht die zuletzt geäußerte Kritik an einer Studie zum Kollaps der Umwälzzirkulation AMOC, eines Strömungssystems, zu dem auch der Golfstrom zählt. Die Studie berechnete, dass ein Kollaps der Umwälzzirkulation mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen 2025 und 2095 und am wahrscheinlichsten im Jahr 2057 bevorstehe. Forschende verschiedener anerkannter Forschungsinstitute betonten jedoch, dass viele Unsicherheiten in den Daten stecken und besonders die Vorhersage eines genauen Zeitpunkts des Zusammenbruchs so nicht haltbar sei.
Klima-Kippelemente als Mittel der Wissenschaftskommunikation?
Klimaforscher Gerrit Lohmann sieht die Stärke des Kipppunkt-Konzeptes folglich auch eher darin, anschaulich zu machen, dass bestimmte Veränderungen in unserem Klimasystem gravierend und irreversibel sein können: "Insofern ist das Wort für die Kommunikation ganz ausgezeichnet. Die Diskussionen jetzt halte ich aber teilweise für überzogen. Eine 'Letzte Generation vor den Kipppunkten', das hört sich nach Panik an, ist nicht lösungsorientiert." Dafür sei auch die Wissenschaft diesbezüglich noch zu unsicher. Lohmann betont jedoch, dass man in jedem Fall an einer Lösung des Klima- und Energieproblems arbeiten sollte.
Zentral ist und bleibt also ein möglichst klimaschonendes Verhalten. Und dafür können mögliche Kippelemente zentrale Orientierungspunkte sein. Denn je mehr wir die Erwärmung bremsen, desto unwahrscheinlicher, dass wir sie erreichen.
Dieser Artikel ist erstmals am 17. August 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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