Eine "Impfnebenwirkung, die es in sich hat", sei angeblich in einer neuen Studie "dingfest" gemacht worden, heißt es in einem Artikel bei welt.de, der gerade in sozialen Medien geteilt wird. Bei Menschen, die einen mRNA-Impfstoff gegen Covid-19 erhalten hatten, seien demnach doppelt so häufig "Mikro-Thrombosen, also Gefäßverschlüsse oder 'Mini-Schlaganfälle' im Auge" vorgekommen wie bei Nicht-Geimpften. Ein Blick in die Studie zeigt aber, dass diese nicht als Argument gegen mRNA-Impfstoffe taugt und auch nicht gegen die Covid-Impfung allgemein.
Die Studie "Risk assessment of retinal vascular occlusion after COVID-19 vaccination" ist Anfang Mai 2023 in der Zeitschrift "npj Vaccines" erschienen, die zur renommierten Nature-Gruppe gehört. Die Wissenschaftler verglichen darin je rund 739.000 Geimpfte und Ungeimpfte miteinander. Jeder Person aus der Gruppe der Geimpften sollte jeweils eine nach nach Alter, Geschlecht, Hautfarbe und Gesundheit passende Person aus der Gruppe der Ungeimpften gegenüberstehen. Ganz ist das den Forschern allerdings nicht gelungen: Die Geimpften sind in vielen Kategorien, wie zum Beispiel Vorerkrankungen, etwas stärker vertreten. Solche Unterschiede können zu Verzerrungen beim Studienergebnis führen.
Studien-Autoren: "kein eindeutiger Kausalzusammenhang"
Unter den untersuchten Personen waren rund 111.500 mit dem mRNA-Impfstoff von Biontech geimpft worden. Etwa 50.000 hatten den Moderna-Impfstoff bekommen. Diese wurden nun mit ebenso vielen Ungeimpften verglichen. Dabei zeigte sich: Unter den Geimpften hatten innerhalb von zwei Jahren nach der Impfung mit dem Biontech-Impfstoff 116 Personen einen Gefäßverschluss in der Retina (Netzhaut), bei den Ungeimpften waren es 107. Das heißt: Unter den Geimpften gab es neun Fälle mehr als bei den Ungeimpften. Beim Moderna-Impfstoff hatten innerhalb von zwei Jahren 106 Geimpfte einen Netzhaut-Gefäßverschluss, bei den Ungeimpften waren es 75. Der Unterschied betrug hier also 31 Fälle unter insgesamt über 100.000 untersuchten Personen.
Diese Unterschiede sind zwar klein, zeigen aber eine, wenn auch schwache, Korrelation: Anscheinend bekommen Geimpfte mit etwas höherer Wahrscheinlichkeit Gefäßverschlüsse in der Netzhaut als Nicht-Geimpfte. Diese Zahlen sagen aber nichts über Ursache und Wirkung aus. Der Zusammenhang kann nur scheinbar oder zufällig sein. Daher taugen sie nicht als Beweis, mRNA-Impfstoffe wären die Ursache der Gefäßverschlüsse im Auge.
Darauf weisen auch die Autoren der Studie hin: "Wir empfehlen, dass Personen, bei denen in der Vergangenheit keine schwere allergische Reaktion auf einen Bestandteil des Impfstoffs aufgetreten ist, zum Schutz gegen COVID-19 geimpft werden, da kein eindeutiger Kausalzusammenhang zwischen Netzhautgefäßverschlüssen und Impfungen besteht." Darüber hinaus ist die Wahrscheinlichkeit, einen retinalen Gefäßverschluss zu bekommen, winzig: "Die Zahl der gemeldeten Augenkomplikationen ist nach wie vor gering, und ein impfstoffbedingter Netzhautgefäßverschluss ist sehr selten, obwohl die Zahl der COVID-19-Impfungen enorm ist." Als Fazit heißt es, wie oft in wissenschaftlichen Artikeln, dass mehr Forschung notwendig sei: "Weitere Untersuchungen sind erforderlich, um eine solide Schlussfolgerung bezüglich des Zusammenhangs zwischen Netzhautgefäßverschlüssen und Covid-19-Impfstoffen herstellen zu können."
Andere Studien finden keinen Zusammenhang zwischen Impfung und Netzhaut-Gefäßverschlüssen
Allerdings ist ungewiss, ob überhaupt ein Zusammenhang zwischen Corona-Impfung und Retina-Gefäßverschlüssen existiert. Zwar gibt es seit Beginn der Impfungen Berichte über einzelne Fälle von Netzhaut-Gefäßverschlüssen. Eine Umfrage der Retinologischen Gesellschaft unter Augenzentren in Deutschland ergab jedoch keine Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für Gefäßverschlüsse im Auge nach einer Covid-19-Impfung. Eine Mitte April 2023 in der Zeitschrift Jama Ophthalmology erschiene Studie kam zum Ergebnis: mRNA-Impfstoffe erhöhen nicht das Risiko für neu auftretende retinale Gefäßverschlüsse. Von 3,1 Millionen untersuchten Patienten, die einen mRNA-Impfstoff gegen Covid-19 erhalten hatten, erhielten 104 Personen, also 0,003 Prozent, innerhalb von 21 Tagen nach der Impfung die Diagnose "retinaler Gefäßverschluss". Das ist vergleichbar mit den Zahlen nach einer Impfung gegen Grippe oder Keuchhusten, Tetanus und Diphterie.
Allgemein sind Gefäßverschlüsse an verschiedenen Stellen des menschlichen Körper eine bekannte, aber sehr seltene Nebenwirkung der mRNA-Impfstoffe. Gefäßverschlüsse treten aber ebenso nach einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 auf. Auch für Gefäßverschlüsse in der Netzhaut haben Wissenschaftler bereits einen Zusammenhang mit einer Coronavirus-Infektion festgestellt. Allerdings sind die Fälle auch hier - wie nach einer Impfung - sehr selten. Daher ist es ebenfalls schwer, einen kausalen Zusammenhang herzustellen. Zudem lässt sich eine Covid-19-Infektion im Nachhinein nicht immer so exakt bestimmen wie eine Impfung, bei der Ort und Zeitpunkt bekannt sind. Das erschwert es zusätzlich, einen Corona-Infektion und Retina-Gefäßverschluss miteinander zu verknüpfen.
Praktischer Rat: Wer ungewöhnliche Veränderungen an seinen Augen feststellt, sollte ärztlichen Rat suchen, um dauerhafte Schäden zu verhindern. Das gilt nach einer Corona-Impfung oder einer Corona-Infektion ebenso wie nach anderen Impfungen und Infektionen. Und auch sonst immer. Es können nämlich auch andere Erkrankungen des Auges vorliegen, denn Retina-Gefäßverschlüsse sind sehr selten.
Video: Warnzeichen im Auge – diese Beschwerden sollten Sie ernst nehmen
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