Über 10 Jahre ist es her, dass die letzte große Pandemie ausgebrochen ist. Damals war es ein Grippevirus, H1N1, das weltweit Millionen Menschen ansteckte. Schnell sollte ein Impfstoff her, mehrere wurden erfolgreich entwickelt und auch verimpft. Noch bevor klar wurde, dass das "Schweinegrippevirus" nicht so gefährlich war, wie befürchtet, waren Millionen Dosen vergeben.
Einige Wochen nach Impfstart mit dem Impfstoff "Pandemrix" fielen finnischen Behörden erste seltene Nebenwirkungen auf: ein 17-facher Anstieg an Narkolepsiefällen bei Kindern und Jugendlichen. Schnell war klar: Es gab einen Zusammenhang zwischen der Impfung und der Narkolepsie.
Autoimmunkrankheit Narkolepsie ist äußerst selten
Narkolepsie ist eine seltene Autoimmunkrankheit, die sich dadurch auszeichnet, dass Betroffene tagsüber extrem schläfrig sind. Viele haben auch eine sogenannte Kataplexie, dabei erschlaffen nach starken Emotionen plötzlich die Muskeln. Das kann sogar passieren, wenn man nur über einen Witz lacht oder sich ärgert. Nach mehreren Sekunden oder Minuten ist der Anfall in der Regel vorbei. Die Betroffenen sind in ihrem Alltag stark eingeschränkt, viele verlieren ihre Jobs oder müssen eine Ausbildung oder ihr Studium abbrechen. In Deutschland sind rund 40.000 Menschen an Narkolepsie erkrankt.
Forscherinnen und Forscher haben seit den ersten Fällen Ende 2009 untersucht, wie häufig Narkolepsie nach der Impfung war. Eine Metaanalyse von 2018 sagt: Das Risiko für die seltene Schlafstörung war bei Jugendlichen um das 14-fache erhöht, bei Erwachsenen immerhin noch um das 7-fache. Ebenfalls auffällig war aber auch eine erhöhte Rate an Narkolepsie-Fällen 2009 in China und Taiwan bei Kindern, die überhaupt keinen Impfstoff erhalten hatten. Das bedeutete: Das H1N1-Virus selbst konnte zu Narkolepsie führen. Ein Zusammenhang, der übrigens auch von der Spanischen Grippe bekannt ist. Die chinesische Daten zeigen sogar, dass das Risiko, an einer Narkolepsie zu erkranken, im Jahresverlauf wellenförmig verläuft - entsprechend der Wintersaison, in der Erkältungskrankheiten und Grippe häufiger sind. Die Schweinegrippe H1N1 hatte demnach 2009 zu einem besonderes starken Anstieg geführt.
Pandemrix-Impstoff machte Hirnzellen angreifbar
Bei der Autoimmunkrankheit Narkolepsie sind bestimmte Hirnzellen zerstört, Hypocretin-Zellen. Diese Zellen produzieren den Botenstoff Hypocretin, der unter anderem den Schlaf und den gesunden Tag-Nacht-Rhythmus steuert. Das H1N1-Virus löst bei manchen Menschen möglicherweise eine Immunantwort aus, die sich auch gegen die körpereigenen Hypocretin-Zellen richtet oder gegen die Rezeptoren für den Botenstoff. Das erklärt man sich so, dass eines der Oberflächeneiweiße des Virus der Struktur auf den Hypocretin-Zellen ähnelt. Das Immunsystem produziert dann also Antikörper gegen H1N1, die dann zufälligerweise auch körpereigene Zellen angreifen. Die Folge wäre: Narkolepsie, weil der Botenstoff nicht mehr hergestellt wird oder nicht mehr verarbeitet werden kann.
Hier findet sich ein möglicher Zusammenhang zwischen der damaligen Impfung und der sehr seltenen Nebenwirkung. Denn der Impfstoff von Pandemrix bestand aus einem Grippevirus, das charakteristische Oberflächenmerkmale trug, die den Körper gegen H1N1 immunisieren sollten. Wenn nun der Körper gegen genau dieses Oberflächenmerkmal Antikörper und T-Killerzellen bildet, könnte es - genau wie bei der Virusinfektion selbst - zu Narkolepsie kommen.
- Zum Artikel: "Corona-Impfstoffe: Was bedeuten fehlende Langzeitstudien?"
Damit es tatsächlich zu dieser schweren Folge kommt, müssen aber mehrere Faktoren zusammenkommen, zum Beispiel auch noch genetische. Denn auch bei einer "normalen" Infektion mit dem H1N1-Virus kam es ja nur äußerst selten zu Narkolepsie, ebenso bei der Impfung. Darüber hinaus scheint der Impfstoffverstärker im Pandemrix-Wirkstoff eine Rolle gespielt zu haben, um den Effekt zu verstärken. Denn andere Schweinegrippe-Impstoffe hatten nicht das Problem mit der Narkolepsie, obwohl sie ebenfalls mit Virusteilen gearbeitet haben - aber anderen Wirkverstärkern.
Seltene Nebenwirkung wird in klinischen Tests nicht gefunden
Die schwere Nebenwirkung Narkolepsie bei Kindern und Jugendlichen wurde nur wenige Wochen nach Beginn der Impfung gemeldet und als Impfnebenwirkung erkannt. Da das Phänomen sehr selten ist, konnten die Forscherinnen und Forscher es in den klinischen Studien nicht entdecken, weil die zu wenige Teilnehmende haben, vor allem zu wenige Kinder und Jugendliche.
Dabei macht es übrigens wenig Unterschied, ob die Studien sehr lang laufen. Die Zahl der Teilnehmenden ist entscheidend. Impfreaktionen und Impfnebenwirkungen treten erfahrungsgemäß innerhalb der ersten zwei Wochen auf. Auch bei Pandemrix war das so. Die Forscherinnen und Forscher aus Finnland konnten zeigen, dass die ersten Symptome von Narkolepsie bei den geimpften Kindern und Jugendlichen innerhalb dieses Zeitraums aufgetreten sind. Es habe aber Wochen und Monate gedauert, bis sie von Fachleuten endlich die Diagnose bekommen haben. Darum ist wahrscheinlich der Eindruck entstanden, dass Pandemrix noch Monate nach der Impfung die Narkolepsie auslösen könne. Doch das war nicht der Fall.
Seltene Nebenwirkungen bei Corona-Impfungen
Auch bei den Corona-Impfungen können sehr seltene Nebenwirkungen erst dann erkannt werden, wenn ausreichend viele Menschen geimpft sind. Dasselbe trifft auch für Kinder und Jugendliche zu. Der Impfverstärker, der 2009 bei Pandemrix Teil des Impfstoffs war, wird heute übrigens nicht mehr verwendet. Darüber hinaus verwenden die mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna gar keine Impfverstärker.
Wichtig ist darum, dass die Behörden auffällige Nebenwirkungen, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung auftreten, genau auswerten. So konnten zum Beispiel die sehr seltenen Sinusvenenthrombosen entdeckt werden, die nach einer Impfung mit dem Wirkstoff von Astrazeneca und Johnson & Johnson aufgetreten sind.
"Darüber spricht Bayern": Der BR24-Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!