Eine Abiturientin schreibt eine Prüfung.
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Zeugnisvermerke sind verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt, wenn sie nur auf Legasthenie begrenzt sind, urteilten die Richter in Karlsruhe.

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Was das Karlsruher Legasthenie-Urteil für Bayerns Schulen heißt

Drei Abiturienten, die gegen die Legasthenie-Vermerke in ihren Zeugnissen geklagt hatten, gab das Bundesverfassungsgericht am Mittwoch recht – aber nur formal. Bayerns Kultusministerium prüft nun, was das Urteil für künftige Zeugnisvergaben bedeutet.

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Legastheniker, also Menschen mit einer Rechtschreibschwäche, haben es in der Schule nicht leicht. Damit sie trotzdem gut durchs Leben kommen, haben mehrere Bundesländer Erleichterungen eingeführt: So können betroffene Kinder bei Prüfungen mehr Zeit bekommen oder die Rechtschreibung wird erst gar nicht bewertet. Im Abschlusszeugnis der betroffenen Schüler können diese Vergünstigungen vermerkt werden und sind damit für Arbeitgeber schon bei der Bewerbung sichtbar.

Davon haben sich drei junge Menschen aus Bayern benachteiligt gefühlt. Sie wollten den Vermerk aus ihrem Zeugnis gestrichen haben und das Bundesverfassungsgericht hat ihnen am Mittwoch formal recht gegeben: Der Vermerk in den Abiturzeugnissen von 2010, dass ihre Rechtschreibleistung nicht bewertet wurde, sei tatsächlich diskriminierend und müsse gestrichen werden, so die Verfassungsrichter. Das gilt aber nur für ihren Fall, mit ihrem Hauptanliegen sind sie nicht durchgedrungen.

Abschlusszeugnisse müssen Vergleichbarkeit gewährleisten

Das Verfassungsgerichtsurteil ist kompliziert, darin sind sich alle Beteiligten, Betroffenen und Beobachter einig. Denn auch, wenn das Vorgehen an bayerischen Schulen damals, 2010, nicht zulässig war, sagen die Verfassungsrichter, sollte ein Abschlusszeugnis Vergleichbarkeit gewährleisten – unter anderem deshalb muss ein entsprechender Eintrag ins Zeugnis, wenn eine Leistung nicht bewertet wird.

Und damit Legastheniker nicht gegenüber Menschen mit anderen Behinderungen benachteiligt werden, müssen wohl künftig alle Schüler einen Vermerk ins Zeugnis bekommen, bei denen aufgrund einer Behinderung eine Leistung nicht bewertet wurde. In Bayern gibt es entsprechende Vorgaben bereits seit 2016 – damals, als die Kläger ihr Abitur machten, gab es sie noch nicht.

Auswirkungen auch auf Schüler ohne Behinderung möglich

Der Anwalt der Kläger, Thomas Schneider, sieht auch mögliche Auswirkungen auf Schüler ohne Behinderung. Denn auch bei denen könnten Lehrer im Rahmen ihres Ermessensspielraums eventuell entscheiden, bestimmte Leistungen nicht zu bewerten: "Sobald man bei einem Schüler zum Beispiel sagt, der hat heute einen schlechten Tag gehabt und da bin ich jetzt mal mit irgendwas nicht ganz so streng, egal ob das jetzt eine schriftliche oder eine mündliche Prüfung ist. In dem Moment muss laut Bundesverfassungsgerichtsurteil sofort eine Zeugnisbemerkung aufgenommen werden, weil vom allgemeinen Prüfungsmaßstab abgewichen wird."

Beim bayerischen Kultusministerium sieht man sich zunächst durch das Urteil bestätigt – zumindest darin, wie das Thema seit 2016 behandelt wird. In einer schriftlichen Stellungnahme von Kultusministerin Anna Stolz heißt es, das bayerische System habe sich bewährt und sei ein wichtiger Baustein dafür, dass alle Schülerinnen und Schüler bestmöglich gefördert werden können.

Anspruch auf Nachteilsausgleich

Klägeranwalt Thomas Schneider sieht noch einen weiteren Punkt, in dem das Urteil größere Änderungen in einigen Bundesländern erwirken könnte: beim Thema Nachteilsausgleich. Diese Maßnahmen bedeuten, dass Schüler mit Beeinträchtigungen genauso benotet werden wie ihre Klassenkameraden, aber bei einer Prüfung beispielsweise mehr Zeit bekommen: "Das Wegweisende in dem Urteil ist, dass Schüler einen Anspruch darauf haben, dass sie einen Ausgleich erhalten. Es gibt neben Bayern Bundesländer, wo so etwas bislang nicht verpflichtend ist."

Oder es gebe Bundesländer, in denen solche Regelungen nur bis zur 10. oder 11. Klasse gelten. Diese müssten nach dem Urteil über die gesamte Schulzeit gewährt werden, von der ersten bis zur letzten Klasse, sagt Anwalt Thomas Schneider.

Urteil hinterlässt Fragen

Nachteilsausgleiche, wie beispielsweise mehr Bearbeitungszeit in Prüfungen, werden übrigens auch in Bayern bislang nicht im Abschlusszeugnis vermerkt. Bayern befindet sich seit der Reform des Schulgesetzes 2016 zwar offenbar auf einem guten Weg, die Vorgaben des Verfassungsgerichts zu erfüllen. Das Urteil hinterlässt aber einige Fragen, die auch die Schulen in Bayern berühren werden. Michael Schwägerl vom Bayerischen Philologenverband, der die Gymnasiallehrer vertritt, hofft jetzt auf praktische Lösungen: "Man braucht eine Regelung, die nicht zu kompliziert sein darf, damit die Schulleitungen und die Lehrkräfte, die damit befasst sind, das auch gut und rechtssicher umsetzen können."

Genaue Handlungsempfehlungen dafür geben die obersten Richter nicht. Aus dem bayerischen Kultusministerium heißt es dazu bisher nur, dass man das Urteil analysieren und Hinweise zur Weiterentwicklung aufgreifen werde.

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