Eine Forschungsgruppe untersuchte die assistieren Suizide in München.
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Assistierte Suizide in München – Bisher kein Vier-Augen-Prinzip

Assistierte Suizide in München – Bisher kein Vier-Augen-Prinzip

Bundesweit sind die Hintergründe assistierter Suizide nicht erforscht. Für die Stadt München hat ein Forschungsteam alle Sterbeakten seit 2020 ausgewertet. Expertinnen aus Wissenschaft und Praxis fordern nun mehr Kontrollen beim assistierten Suizid.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Ein Team aus Gesundheitsamt und Rechtsmedizin hat sämtliche Sterbeakten aus München seit 2020 ausgewertet. So eine Untersuchung assistierter Suizide ist einmalig in Deutschland. Demnach waren es entgegen einer landläufigen Meinung in fast allen Fällen nicht Sterbenskranke, die sich ein todbringendes Medikament verschreiben ließen und einnahmen.

Angst vor Pflegebedürftigkeit

Die Untersuchung zeigt: Nur eine Minderheit hatte vor dem assistierten Suizid eine akut lebensbedrohliche Krankheit. Konkret sei das nur bei einem der 77 Menschen der Fall gewesen. Entscheidender sei der Wunsch, selbstbestimmt aus dem Leben zu gehen. "Wir haben gesehen, dass es alte Menschen sind, die Angst haben, ihre Würde zu verlieren, wenn sie pflegebedürftig werden", sagt Sabine Gleich. Die Amtsärztin untersuchte mit einem Rechtsmedizin-Team der Ludwig-Maximilian-Universität die Sterbeakten.

Ihre Einschätzung teilt Claudia Bausewein. Sie ist Direktorin der Palliativ-Klinik in München-Großhadern. "Es ist gar nicht die aktuelle Situation, die den meisten Sorge macht", sagt sie. "Sondern diese Angst: Was passiert mit mir, wenn ich sehr krank werde?"

Assistierter Suizid seit 2020 in Grauzone möglich

2020 hatte das Bundesverfassungsgericht das Verbot der organisierten Sterbehilfe gekippt. Deutschlandweit gibt es drei Sterbehilfeorganisationen. Im Jahr 2023 wurden um die 900 Suizide assistiert.

Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland weiterhin verboten. Assistierter Suizid ist jedoch rechtlich nicht genauer geregelt. Assistierter Suizid bedeutet, dass bei der Selbsttötung geholfen wird, zum Beispiel, indem ein Arzt ein tödliches Medikament privat verschreibt. Der entscheidende Unterschied zur aktiven Sterbehilfe ist, dass der Patient das Medikament selbst einnimmt.

Bisher kein Vier-Augen-Prinzip

In der Betrachtung der assistierten Suizide stellte Gleich außerdem fest, dass Gutachtenerstellung, Medikamenten-Verordnung auf Privatrezept, die Suizidassistenz und die ärztliche Leichenschau in einem erheblichen Teil der Fälle alle in der Hand eines einzigen Arztes lagen. "Das heißt, wir haben keine Kontrolle irgendwo bei einer unumkehrbaren Maßnahme wie dem Tod", sagt Gleich.

Der Gesetzgeber solle die Kontrolle beim assistierten Suizid stärker regeln – und beispielsweise ein Vier-Augen-Prinzip einführen. Der Bundestag ringt seit Jahren um entsprechende Regelungen. "Die brächten mehr Klarheit", so Gleich.

Gefahr der Normalisierung entgegenwirken

Klarere Vorgaben wünscht sich auch Claudia Bausewein. Gleichzeitig warnt sie davor, den assistierten Suizid zu sehr zu normalisieren: "Wenn ich so eine Checkliste habe, wo man nur das nächste Gutachten, die Wartezeit und all das sieht, droht die Gefahr, dass sich niemand wirklich auf die Not dieser Menschen einlässt."

Der Bayerische Rundfunk berichtet - vor allem wegen möglicher Nachahmer-Effekte - in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche, außer die zuständige Redaktion sieht es durch die Umstände der Tat geboten. Sollten Sie selbst Hilfe benötigen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Beratung erhalten Sie unter der kostenlosen Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222. Online: https://www.telefonseelsorge.de/ (Chatberatung und Mailberatung)

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