Mit dem Vormarsch Künstlicher Intelligenz (KI) stellt sich nach Ansicht des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) die Frage, wie die Benotung künftig aussehen soll. Der BLLV fordert eine Reform des klassischen Notensystems - und zwar schnell. "Ich glaube, dass die schnelle Entwicklung der KI uns kein langsames Weiterentwickeln der Leistungsbewertung erlaubt. Wir müssen einsehen, dass unser Leistungssystem oldschool ist", sagte BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann der Nachrichtenagentur dpa.
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Kinder kommen heute anders zu Wissen als früher
Im BR sagte sie: "Wir sehen doch alle, dass andere Medien dazu beitragen, dass Kinder anders zu Wissen kommen. Wenn das so ist, dürfen wir das nicht negieren, sondern wir müssen kucken: Wie integrieren wir das? Früher hat man den Opa gefragt. Jetzt fragt man ChatGPT. Wir können damit umgehen. Wir wissen ganz genau, wie man das integrieren kann in ein gutes Bildungssystem. Aber die Leistungsmessung muss sich ändern. Wenn die Kinder ihr Wissen woanders herkriegen, dann müssen wir uns überlegen, ob wir den Prozess stärker bewerten."
Bayerns Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) erklärte zu den Forderungen, er halte die Debatte für "etwas weit hergeholt" und plädiere für mehr Gelassenheit. Auch der Verband der Realschullehrer (VDR) merkte an, dass sich KI und klassische Noten nicht gegenseitig ausschließen müssten.
Fleischmann: Leistungsgespräche anstelle von Noten
"Wir müssen endlich mal aufhören, nur die Note als allein glückselig machend zu sehen. In der freien Wirtschaft machen alle Assessments. Was bringt mir dann ein Fünfer?", erklärte Fleischmann weiter.
Am Freitag war bekannt geworden, dass einige Hamburger Schüler unter Verdacht stehen, in Klausuren für das Abitur mit Hilfe von Programmen mit Künstlicher Intelligenz geschummelt und ChatGPT genutzt zu haben. In Bayern gibt es nach Angaben des Kultusministeriums bislang noch keine derartigen Verdachtsfälle in Schul-Abschlussprüfungen.
"Die Art und Weise unseres Schulsystem, die Systemlogik, stößt inzwischen an ihre Grenze. Das hat damit zu tun, dass wir einfach stehen geblieben sind", kritisierte Fleischmann. "Wir wollen immer noch selektieren, aussortieren, Noten geben. Aber wir müssen künftig die Prozesse beurteilen und nicht das Ergebnis." Mit Leistungsgesprächen oder Portfolios sei das möglich. "Es gibt auch Leistungen, die neben einem Abitur einen Menschen ausmachen."
Nicht nur das Ergebnis, auch der Prozess wichtig
Das bedeute nicht, dass das Ergebnis nicht mehr wichtig sei, so Fleischmann. "Ich habe schon mitgekriegt, da gibt es jetzt einige, die sagen oh Gott, dann ist das Ergebnis des Lernens gar nicht mehr wichtig. Nein, es kann doch beides sein. Wie hast du gelernt? Und was hast du verstanden? Die Bildungspolitik besteht aus den Menschen, den Eltern, den Kindern, den Lehrern - also aus der Gesellschaft." Man streite nicht mehr um Fakten, sondern um elaboriertes, höherwertiges Wissen. Und deswegen werde es hier einen Wandel geben. Man könne nicht alles, was in der Welt los sei, negieren, sondern müsse alles reinholen und versuchen, mit den Entwicklungen auf diesem Markt umgehen zu können. Man müsse heutzutage andere Kompetenzen vermitteln, so die Lehrerverbands-Präsidentin.
Schule muss laut BLLV Entwicklungen annehmen
Schulen dürften gesellschaftliche Entwicklungen nicht ignorieren, sondern müssten sie auf- und annehmen: "Wir wollen keinesfalls signalisieren, dass wir Entwicklungen in diesem zukunftsträchtigen Bereich negieren."
Aber reagieren müssten Schulen darauf - mit der Vermittlung von Medienkompetenz und eben einem anderen Bewertungssystem, betonte Fleischmann. "Der Umgang mit der Infoquelle ist entscheidend." Man müsse "Schule neu denken" und die rasante technische Entwicklung könnte - so ihre Hoffnung - dazu führen, dass das träge Bildungssystem sich ausnahmsweise deutlich schneller ändern könnte - "und nicht erst in 20 Jahren".
Im Video: Lehrer fordern angesichts von KI neue Art der Benotung
Piazolo: Schummeleien bei Prüfungen "hat es immer gegeben"
Bayerns Kultusminister Piazolo erklärte indessen, es würden bei der Debatte einige "Dinge miteinander vermengt", die nicht unbedingt in Zusammenhang stünden: "In Hamburg schummeln ein paar wenige Schüler beim Abitur und sofort wird das jahrzehntelange bewährte System der Noten infrage gestellt", erklärte er auf Anfrage von BR24. Schummeleien bei Prüfungen habe es immer schon gegeben.
Er sei vielmehr der Auffassung, dass es Noten brauche und viele Schüler diese auch wollten. "Man braucht Leistungsnachweise, um selbst zu wissen, wie man in den einzelnen Fächern steht", so Piazolo. Auch im späteren Leben müsse man auf bestimmte Termine und Leistungen hinarbeiten. "Wichtig ist, dass Noten nachvollziehbar sind und erklärt werden, dann sind sie ein gutes Feedback."
Künstliche Intelligenz bezeichnete Piazolo als "spannende Entwicklung, der wir aufgeschlossen gegenüberstehen". Man wolle Programme wie ChatGPT keineswegs aus der Lebenswelt der Schüler verbannen – "denn unser Ziel und unser Anspruch ist es, die Schülerinnen und Schüler bestmöglich auf die digitale Zukunft vorzubereiten". Aktuell hätten alle Schulen einen Orientierungsrahmen zu "Künstliche Intelligenz in der Schule" erhalten.
Verband der Realschullehrer: Noten und KI schließen sich nicht aus
Ähnlich sieht das der Verband Deutscher Realschullehrer (VDR). "Noten und KI schließen sich aus? Welche Logik hinter dieser vermeintlichen Feststellung steckt, erschließt sich einem nicht", sagte der VDR-Bundesvorsitzende Jürgen Böhm. "Nur, weil bei Prüfungen in Hamburg digitale Endgeräte nicht überprüft wurden, sollen Noten abgeschafft werden? Spätestens seit dem grafikfähigen Taschenrechner liegt es in der Verantwortung der Ministerien und letztlich Lehrkräfte, bei Prüfungen besondere Vorkehrungen zu treffen."
Zur Beherrschung der neuen digitalen Möglichkeiten, "zur Durchdringung der KI mit allen Gefahren und tollen Optionen" seien "Wissen und Können und damit Kompetenzen gefragt", sagte Böhm. Grundkompetenzen wie Sprachverständnis und Sprachbeherrschung, mathematische Kompetenzen und logisches Denken seien nicht abhängig von KI oder digitalen Medien. "Es geht um grundlegende Kulturtechniken, die man beherrschen muss." Böhm betonte: "Differenzierung und klare Leistungsanforderungen sind der Schlüssel des Bildungserfolges – dann ist es egal, ob dieser Bildungserfolg analog, digital oder mit KI erreicht wurde."
Mit Informationen von dpa
Im Video: Kann ChatGPT Schule ersetzen?
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