Nach zwei Jahren coronabedingter Pause findet dieses Jahr ab 17. September das Oktoberfest in München wieder statt. Doch die Pandemie ist noch nicht vorbei und Corona-Einschränkungen sind auf der Wiesn nicht zu erwarten. Wie beurteilt es der Virologe Oliver T. Keppler von der Ludwig-Maximilians-Universität, dass Corona und das größte Volksfest der Welt zusammentreffen? Im Interview mit BR24 erläutert Keppler Ansteckungsgefahr, die ohnehin schon angespannte Lage im Gesundheitssystem und warum es eine "unangemessene Verharmlosung" ist, die sprichwörtliche Wiesn-Grippe mit den Risiken und der Belastung der Gesamtbevölkerung durch COVID-19 zu vergleichen.
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BR24: Professor Keppler, wie bewerten Sie als Virologe, dass die Wiesn dieses Jahr wieder stattfindet?
Keppler: Zunächst muss man konstatieren: Die Wiesn hat eine lange Tradition und trägt mit ihrer besonderen Atmosphäre bisher zu einem sehr positiven Bild von Bayern und Deutschland bei. Wir kennen aber auch seit Jahren die sogenannte "Wiesn-Grippe". Enge Kontakte im Bierzelt fördern die Ausbreitung jeglicher Atemwegsinfektionen.
BR24: Und jetzt gesellt sich Corona als Virus hinzu …
Keppler: Ja. Und wir haben weiterhin eine hochaktive Pandemie. Man kann sie nicht per Dekret für beendet erklären oder nach dem Vogelstraußprinzip einfach ignorieren. SARS-CoV-2 und durch das Virus ausgelöste Erkrankungen werden bleiben. Weltweit erleben wir derzeit ein fast babylonisches Gewirr von Umgangsstrategien mit der Pandemie. Die Tendenz geht in den letzten Monaten in Richtung Wegfall von Maßnahmen.
BR24: Und dies wird auch bei der Wiesn zum Problem?
Keppler: Die lange vermisste Geselligkeit in Bierzelten ist aus virologischer Sicht ohne Zweifel ideal für die Übertragung der aktuell vorherrschenden hochansteckenden Varianten von SARS-CoV-2. Eine Maskenpflicht oder Abstandsregeln zu fordern wäre unsinnig, da dies nicht ernsthaft durchsetzbar wäre und dem Grundgedanken des Oktoberfests widersprechen würden.
Man muss als Besucher im Bierzelt aber von einem sehr hohen Risiko ausgehen, in Kontakt mit dem Virus zu kommen – über Tröpfchen oder durch Aerosole. Dieses Virus ist mutationsfreudig und hat sich in den letzten zwei Jahren hin zu einer immer höheren Ansteckungsfähigkeit und auch Immunflucht optimiert. Auf einer Skala von 1 bis 10 liegt die Wahrscheinlichkeit einer SARS-CoV-2-Exposition nach mehreren Stunden im Zelt nach meiner Einschätzung bei 9 bis 10. Viel mehr geht also nicht.
BR24: Wie problematisch wären massenhafte Infektionen auf der Wiesn?
Keppler: Auf der einen Seite ist die Krankheitsausprägung bei den aktuell vorherrschenden Omikron-Varianten im Durchschnitt ja glücklicherweise vermindert. Auch respektable Impfquoten und die vielen Infektionen der letzten Monate haben eine gute Basisimmunität zum Schutz vor schweren Verläufen in unserer Bevölkerung geschaffen. Auch Boostern ist nach Einschätzung der STIKO für Menschen über 60 und für Vorerkrankte sinnvoll und könnte in den kommenden Wochen auch die Barriere für eine Infektion erhöhen, sollte man auf das Virus treffen.
Auf der anderen Seite hat das durchgehend hohe Infektionsgeschehen die chronische Belastung des Gesundheitssystems fortgesetzt – in diesem Sommer ohne Pause. Der abwiegelnde Verweis auf die derzeit aufgrund von geändertem Testverhalten und Urlaub wenig aussagekräftige Inzidenz oder auch das Narrativ, dass ja die Intensivstationen nicht überlastet seien und daher kein Problem durch COVID-19 vorliege, ist im besten Fall naiv. Das Personal ist erschöpft. Operationen werden jetzt schon in einigen Kliniken wieder abgesagt. Das klingt für manche vielleicht abstrakt, aber wenn es einen selbst, Angehörige oder Freunde betrifft, versteht man die Brisanz.
SARS-CoV-2-Infizierte bringen einen erhöhten Arbeits- und Pflegeaufwand und das hohe Infektionsniveau auch noch Personalengpässe mit sich. Es sterben derzeit täglich 100 bis 200 Menschen in Zusammenhang mit COVID-19 in Deutschland – Tendenz steigend. Längerfristige gesundheitliche Einschränkungen bis hin zur Arbeitsunfähigkeit sind bei Post-COVID-Patienten aller Altersgruppen zu beobachten. Hier scheint die Impfung nur bedingt zu schützen und Reinfektionen scheinen das Risiko zu erhöhen. Dieses Krankheitsbild ist komplex und es wird sicher noch Jahre brauchen, bis wir es genauer einordnen und hoffentlich auch therapieren können. Die Risiken und die Belastung der Gesamtbevölkerung durch COVID-19 mit der "Wiesn-Grippe" zu vergleichen ist eine unangemessene Verharmlosung.
BR24: Sie raten also von einem Wiesn-Besuch ab?
Keppler: Natürlich kann jeder entscheiden, ob er das Oktoberfest besucht – Eigenverantwortung ist wichtig. Diese hat aber auch offensichtliche Grenzen: Verantwortliches Handeln benötigt hier eben auch fundiertes Wissen für eine realistische Einschätzung. Es ist für viele jedoch schwierig, ihr Risiko für schwere COVID-19-Verläufe oder auch Spätfolgen abzuschätzen: Alter, Vorerkrankungen, Übergewicht, Herzkreislauferkrankungen, Impf- und Infektionsvorgeschichte spielen hier unter anderem eine Rolle – das ist komplex in der Gewichtung.
Von den über zwei Millionen Menschen mit einem Alter über 60 und ohne COVID-19-Impfung in Deutschland haben sich wahrscheinlich viele während der bisherigen Omikronwellen infiziert. Welchen Schutz diese Immunität für den bevorstehenden Herbst bieten wird, ist unklar. Erste Studien gehen von einem leider nur geringen protektiven Nutzen ohne zusätzliche Impfung aus.
Aber auch der gesamtgesellschaftliche Kontext ist hier von Bedeutung: Das nun mal größte Volksfest der Welt kann Millionen Neuinfektionen innerhalb von zwei Wochen im Großraum München ermöglichen. Das ist synchronisiertes Superspreading mit weltweiter Sichtbarkeit. Der Vergleich mit anderen Volksfesten, Konzerten, Bars, Clubs oder dem Urlaub am Strand springt aus meiner Sicht zu kurz – die Dimension ist einfach eine völlig andere. Im Nachgang zur Wiesn ist eine starke Belastung des lokalen Gesundheitssystems im Oktober und November wahrscheinlich, die Konsequenzen für die Akutbetreuung wie auch für geplante operative Eingriffe sind schwer abzuschätzen. Natürlich werden auch viele Gäste aus dem Ausland erwartet. Sie bringen Virusvarianten mit und nehmen solche mit und tragen so zur Verbreitung der Herbstwelle in die ganze Welt bei.
BR24: Ist die Durchführung der Wiesn aus Ihrer Sicht unverantwortlich?
Keppler: Sowohl eine Absage der Wiesn 2022 als auch eine Durchführung wie 2019 sehe ich als problematisch an – aber es stehen nun leider nur diese zwei Optionen zur Wahl. Es besteht eine grundsätzliche Verantwortung bei den Organisatoren und Aufsichtsbehörden, das Gesamtrisiko des Infektionsgeschehens bei einer so besonderen Großveranstaltung in einem vertretbaren Rahmen zu halten. Der rechtliche Rahmen war und ist aktuell hierfür limitiert. Es ist jedoch für Ärzte befremdlich, dass sinnvolle Alternativkonzepte unter anderem an Gültigkeitszeiträumen einzelner Versionen des Infektionsschutzgesetzes zu scheitern scheinen. Die Wiesn 2022 ist eine Veranstaltung mit vielen Unbekannten. Der Wunsch nach Normalität darf vermeidbare Risiken für die Gesellschaft nicht verdrängen.
BR24: Hätte es die Möglichkeit gegeben, die Wiesn sicherer zu machen?
Keppler: Ja. Ein empfindliches Testprinzip, das einen Großteil der akuten SARS-CoV-2-Infektionen erkennt und auch für so viele Menschen in kurzer Zeit umsetzbar ist, wäre denkbar gewesen. Dies hätte das Infektionsrisiko stark senken können. Es hätte jedoch auch einen organisatorischen Vorlauf von neun bis zwölf Monaten benötigt.
BR24: Wäre es aus Ihrer Sicht gut gewesen, einen Immunitätsnachweis für alle Festzeltbesucher vorzuschreiben?
Keppler: Dies hätte die Risiken gesenkt. Wieder treffen Eigenverantwortung und gesamtgesellschaftliche Konsequenzen aufeinander. Die positive Tradition dieses weltgrößten Volkfestes ist ein hohes Gut, aber eine Rückkehr nur zu vorpandemischen Automatismen birgt schwer abzuschätzende Risiken. Vielleicht kann man zum Jahresende neue Konzepte für ausgelassene und sichere Wiesn in den kommenden Jahren diskutieren.
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