Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, hält die Entscheidung der Gesundheitsminister für flächendeckende Impfangebote an Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren nicht für einen Affront gegen sein Gremium. In der BR24 Rundschau verwies Mertens darauf, dass die Corona-Impfung von Jugendlichen bereits länger möglich sei. Die Öffnungsklausel, wonach dabei der Wunsch der Eltern und des Kindes sowie der Rat eines Arztes berücksichtigt werden müssen, sei nicht grundsätzlich verändert worden.
Dass das Impfangebot nun allen 12- bis 17-Jährigen gemacht werde, liege im Ermessensspielraum der Politik, sagte Mertens. Er bestätigte, dass der Stiko nun neue Daten zu Risiken und Nebenwirkungen der Impfungen für Jugendliche vorlägen. In etwa zehn Tagen werde die Stiko sich dazu öffentlich äußern und ihre Empfehlungen aktualisieren. Bisher empfiehlt das Gremium eine Impfung von 12- bis 17-Jährigen nur bei bestimmten Vorerkrankungen. Laut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) haben sich bisher mehr als 900.000 Mädchen und Jungen in Deutschland einmal impfen lassen, was etwa 20 Prozent aus dieser Altersgruppe entspreche.
Mertens: Relativ geringe Auswirkung auf Pandemieverlauf
Zu beachten ist laut Stiko-Chef Mertens allerdings, dass die Impfungen von Jugendlichen "nach allen mathematischen Modellen" eine relativ geringe Auswirkung auf den Pandemieverlauf hätten. Wichtiger sei, bei den 18- bis 59-Jährigen eine höhere Impfquote zu erreichen. In dieser Altersgruppe müssten mehr als 75 Prozent geimpft sein, um die Pandemie in den Griff zu bekommen, betonte Mertens. Auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, grundsätzlich für die Impfung von Kindern und Jugendlichen, warnt vor verfrühtem Optimismus. "Es wird keine Herdenimmunität in den Schulen geben, dafür ist die Impfbereitschaft dann doch zu gering", sagte Lauterbach dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland".
Stiko-Chef Mertens wiederum wurde noch deutlicher - ebenfalls am Montagabend bei einer Online-Veranstaltung mit der CDU-Bundestagsabgeordneten Ronja Kemmer. Eine Impfung von Kinder- und Jugendlichen trage zur Herdenimmunität nicht bei, betonte Mertens.
USA: Mehr Übergewicht, mehr Impfungen?
Dass in anderen Ländern aufgrund derselben Daten aus internationalen Studien andere Entscheidungen gefallen seien, verwundere nicht, fügte Mertens an. Die Auswertung der Daten und die Schlussfolgerungen seien immer mit den jeweiligen Voraussetzungen verbunden. Dass etwa in den USA so viele Jugendliche geimpft seien, sei Folge höherer Anteile an Mangelernährung, Übergewicht und Diabetes in dieser Altersgruppe.
Am Montag hatten die Gesundheitsminister der Bundesländer beschlossen, dass alle Länder Impfungen für 12- bis 17-Jährige auch in Impfzentren oder auf andere niedrigschwellige Weise anbieten werden. In dem Beschluss wird betont, dass vor der Impfung eine ärztliche Aufklärung und gegebenenfalls das Ja der Sorgeberechtigten nötig seien. Die Angebote seien so auszugestalten, dass die "Freiwilligkeit der Annahme" nicht in Frage gestellt werde. Die Umsetzung des Impfprogramms für 12- bis 17-Jährige liegt nun bei den jeweiligen Bundesländern.
Kinderärzte für Neubewertung: Risiken extrem gering
Der Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, wünscht sich derweil eine rasche Neubewertung der Stiko-Position. "Bereits heute dürfen Ärztinnen und Ärzte entsprechend der aktuell gültigen Stiko-Empfehlung nach intensiver Aufklärung Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren impfen", sagte Fischbach der "Rheinischen Post". Das Risiko von Nebenwirkungen durch die Impfung sei extrem gering, das zeigten "alle Daten aus anderen Ländern".
Auch CSU-Chef Markus Söder fordert seit Wochen, dass die Stiko ihre Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche aktualisiert. Dabei sprach er von der Stiko als einer ehrenamtlichen Organisation, wohingegen die Europäische Arzneimittelbehörde EMA die "Profis" seien. Vor rund zwei Wochen forderte die Stiko als Reaktion auf die fortwährende Kritik von Söder und anderen Politikern: "Die aktuellen Aussagen von Herrn Söder und anderen Politikern zur Stiko und zu deren Arbeit sind auch unter Berücksichtigung der Wahlkampfzeit ungewöhnlich und müssen korrigiert werden."
Bundesgesundheitsminister Spahn verteidigte derweil das ausgeweitete Impfangebot für Kinder und Jugendliche. Spahn betonte im RBB-Inforadio, dass die Impfung freiwillig bleibe. Es gebe auch keinen Widerspruch zur Stiko. "Wer will, kann sich impfen lassen, keiner muss. Das ist kein Gegensatz, sondern wir sind da im Einklang miteinander", sagte der CDU-Politiker. Gerade das Impfen bei Kindern und Jugendlichen sei "auch ein emotionales Thema, das in vielen Familien diskutiert wird". Es gehe "ausdrücklich nicht darum, Druck zu machen" - sondern darum, denjenigen, die geimpft werden wollen, auch die Möglichkeit dazu zu geben.
Hausärzteverband: "Wahlkampfgetöse"
Der Deutsche Hausärzteverband äußerte schon vor Spahns Wortmeldung scharfe Kritik an der Entscheidung der Gesundheitsminister, das Angebot von Corona-Impfungen für Kinder und Jugendliche auszuweiten. Der Bundesvorsitzende des Verbandes, Ulrich Weigeldt, sprach von einer Missachtung der Kompetenz der Stiko, die bislang keine allgemeine Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren abgegeben hat.
Die Entscheidung der Politik könne zu Verunsicherung führen, sagte Weigeldt dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland". Er kritisierte: "Das Ganze klingt ein wenig nach Wahlkampfgetöse." Auch er betonte, das Risiko liege "mehr bei den nicht impfwilligen Erwachsenen als bei den Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren". Für Kinder und Jugendliche mit hohem Risiko gebe es ja bereits eine Impfempfehlung. "Warum eine Empfehlung der Stiko dazu zunächst nicht abgewartet werden kann, die sich auf Basis von fundierten Studien zeitnah äußern will, ist mir schleierhaft", sagte Weigeldt.
Virologe Bartenschlager: "Eher unglückliche Situation"
Der Virologe Ralf Bartenschlager von der Universität Heidelberg sprach im Interview mit der radioWelt auf Bayern2 von einer "eher unglücklichen Situation". Aus seiner Sicht habe die Stiko eine hervorragende Arbeit gemacht, betonte Bartenschlager. "Sie ist natürlich einer Sache verpflichtet, das ist das Vorhandensein ausreichender Daten, ausreichend vorhandener Fakten." Bei Kindern ist die Datenlage laut dem Virologen noch nicht sehr aussagekräftig. Bartenschlager ergänzte allerdings: "Wir dürfen damit rechnen, dass in den nächsten zwei, drei Wochen diese Zahlen verfügbar werden - und dass dann die Stiko eine entsprechende Empfehlung auf einer wirklich fundierten Datenbasis machen kann."
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