Stefan ist von Geburt an schwerbehindert, kann nicht sicher alleine gehen, ist blind und kann sich nur schwer verständigen. Eigentlich verbringt der 33-Jährige seinen Nachmittag nach der Tagesförderstätte im Wohnheim in Aschaffenburg mit anderen behinderten Menschen. Doch seit Mai betreuen ihn seine Eltern. "Man kommt zu gar nichts mehr, kann sich nur noch mit ihm beschäftigen", sagt Stefans Vater Jens-Peter Schulze, der Stefan nicht von der Seite weicht.
Leere Wohnheimplätze wegen Personalmangel
Das Wohnheim, in dem Stefan acht Jahre lang gelebt hat, ist vollkommen überlastet. Es fehlt Personal, das die Bewohnerinnen und Bewohner betreuen kann. Eigentlich hat Stefan mit 24 Menschen zusammengewohnt. "Dann ist ganz viel Personal gegangen und es gab viele Krankheitsfälle. Deshalb wurden wir gebeten, ob wir den Stefan dauerhaft nach Hause holen können", schildert Mutter Kirsten Simon. "Was wir seitdem jeden Tag bringen, ist immens."
Schwerbehinderter Sohn braucht 24-Stunden-Betreuung
Um sich um seinen schwerbehinderten Sohn kümmern zu können, ist Vater Jens-Peter seit Juni frühverrentet. Er hilft Stefan beim Aussteigen aus dem Auto, beim Klogang, beim Schuhe ausziehen und hinsetzen – und hält ihn permanent beschäftigt. Für seine Eltern bedeutet das: jederzeit volle Aufmerksamkeit und Zuwendung. "Jetzt fehlt uns die eigene Perspektive, wie wir unser Leben gestalten können." Treffen und Ausflüge mit Freunden haben sie abgesagt. "Wir versuchen jeden Tag zu schaffen, und hoffen, dass nichts passiert, dass man zu zweit bleibt, weil der andere wäre alleine aufgeschmissen."
Bezirkssprecher Lebenshilfe Unterfranken: "Bald ganz Bayern betroffen"
Dass sich etwas an der Situation ändert, daran glauben sie nicht: Es fehlt jetzt schon Personal – und wenn mit der Babyboomer Generation in den nächsten Jahren zahlreiche Fach- und Hilfskräfte in Rente gehen, spitze sich die Lage weiter zu, heißt es vom Bezirkssprecher der Lebenshilfe Unterfranken Wolfgang Trosbach: "Wenn in den Einrichtungen nur eine Person krank wird oder kündigt, stehen wir vor demselben Problem. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass es ganz Bayern treffen wird."
Neuerungen beim Pflege- und Wohnqualitätsgesetz seit August
Trosbachs große Kritik: Das Bayerische Pflege- und Wohnqualitätsgesetz mit seinen Neuerungen, die seit August gelten. Darin steht, dass jederzeit eine Fachkraft vor Ort sein muss, auch nachts. Das sei für eine kleine Wohngruppe nicht leistbar. Die Heimaufsicht, angesiedelt bei den Kreisverwaltungsbehörden, erlässt dann eine Anordnung, etwa innerhalb einer Frist das nötige Personal anzustellen. Wird die Vorgabe nicht erfüllt, droht ein Zwangsgeld. Das können je nachdem mehrere tausend Euro sein. "Es ist jedenfalls ein Betrag zu wählen, der den Pflichtigen voraussichtlich veranlassen wird, die Verpflichtung zu erfüllen", so die Heimaufsicht des Landkreises Würzburg.
Die Wohnheime können die Vorgabe aber definitiv nicht erfüllen, weil einfach keine Fachkräfte da sind. So geraten sie unter Druck. Der Bezirk hat den Versorgungsauftrag, ist also zuständig für die Finanzierung von Wohnheimplätzen. Was die Personalsituation angeht, würden bereits Lösungsmöglichkeiten erarbeitet. "Ziel ist stets, eine Schließung abzuwenden", heißt es auf Nachfrage.
Mutter ratlos: "Was ist morgen? Was ist nächstes Jahr?"
Das Bayerische Pflege- und Wohnqualitätsgesetz soll eigentlich die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner sichern. "Wir müssen alles dafür tun, dass auch in Zukunft der Mensch mit seiner Würde und seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt steht", wurde Klaus Holetschek (CSU), der damalige bayerische Gesundheitsminister im Juli in einer Pressemitteilung zu der Gesetzesänderung zitiert.
Aber hier in Unterfranken hat es zu weniger Wohnheimplätzen geführt. Die Eltern springen ein, sind überfordert und ratlos. "Das ist unser Kind, haben uns das Kind gewünscht." Deshalb gehen Mutter Kirsten und Vater Jens-Peter jeden Tag aufs Neue an ihre Grenzen und sind erleichtert, wenn der Tag vorbei ist. "Aber was ist morgen? Was ist in ein paar Monaten? Was ist nächstes Jahr?" Eigentlich wollten die beiden in ihrem Ruhestand mit dem Wohnmobil verreisen, sich mit Freunden treffen, spontane Ausflüge machen. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Mehrere Verbände fordern von der Landesregierung, eigene, flexible Lösungen für den Bereich der Behindertenhilfe zu entwickeln.
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