Zwei Jahre lang bremste Corona auch das Brauchtum des "Wolfauslassens" im Bayerischen Wald. Heuer wird wieder in vielen Orten laut mit den Kuhglocken gescheppert. Hochburg ist Rinchnach im Kreis Regen, wo am Abend des 10. November rund 600 Wolfauslasser auf dem Dorfplatz "zamläuten".
1.500 Zuschauer und ein ohrenbetäubendes Spektakel
Vor Corona waren es schon mal über 3.000 Zuschauer, die auf dem nächtlichen Dorfplatz von Rinchnach das Dröhnen von 600 Glocken bestaunten. Heuer rechnet man nur mit rund 1.500 Zuschauern, weil sich wohl viele doch noch nicht in ein Menschengedränge trauen.
Der Ablauf ist heuer wie vor der Pandemie: Ab 18.30 Uhr ziehen nach und nach die zehn Rinchnacher "Wölfe" auf dem Dorfplatz ein. So nennt man die Gruppen der Wolfauslasser. Sie kommen aus dem Hauptort Rinchnach und aus den umliegenden Dörfern, die zur Gemeinde gehören, von Unterasberg bis Grub.
Kuhglocken sind Spezialanfertigungen
"Die Wolfauslasser freuen sich sehr, dass es nach zwei Jahren Corona endlich wieder stattfindet", so Reinhold Ertl, Leiter Tourist-Info Rinchnach. Um 21.15 Uhr beginnt der große Moment: Alle Glocken werden im gleichen Rhythmus geläutet.
Das Ganze ist wirklich ohrenbetäubend. Denn es sind keine kleinen Kuhglocken, sondern überdimensionale, schwere Spezialanfertigungen, teils bis zu einem Meter hoch, die sich die Männer und Buben - in manchen Gruppen auch ein paar Mädchen - um die Hüfte schnallen.
Beleuchtet wird das Spektakel von einem großen Heliumballon – ein Zuckerl der Gemeinde, damit die Zuschauer gutes Licht zum Fotografieren haben. Auch ein Zelt für die Bewirtung wird aufgestellt.
Die Wolfauslassernacht ist lang
Nach dem großen Zusammenläuten geht es in den Wirtshäusern und Straßen Rinchnachs weiter. An Schlaf ist in dieser Nacht nicht zu denken. Die ganz Hartgesottenen halten bis zum Morgen durch. Traditionell wird um 6 Uhr früh nochmal lautstark "der Tag angeläutet". Da braucht es viel Toleranz, auch bei den Dorfbewohnern.
Doch die Rinchnacher sind es gewohnt. Ihr Ort ist seit Jahrzehnten Hochburg eines Brauchs, der in vielen anderen Orten im Bayerischen Wald nur von Kindergruppen ausgeübt wird. Die ziehen von Haus zu Haus, sagen den traditionellen Hirtenspruch auf, scheppern und bekommen dann ein paar Münzen.
Auch in Rinchnach wird noch in dieser Weise von Haus zu Haus gezogen, beim "Anmelden", wie man es nennt, das hier aber immer am Abend vor dem großen Zusammenläuten stattfindet.
Glocken und Peitschen
Zweite große Hochburg des Brauchs ist die Gemeinde Bodenmais, wo es drei große Gruppen gibt. Sie ziehen heuer am 11. November durch den Ort und treffen sich um 22 Uhr zum Zusammenläuten auf der "Kuhbrücke" im Ortszentrum. Auch hier werden viele Zuschauer erwartet. Denn in einer kalten Novembernacht wirkt dieser Brauch urtümlich, wild und fast archaisch.
Der Rhythmus bringt die Luft zum Schwingen. Die tiefen Töne spürt jeder Zuschauer körperlich. Dazu wird noch laut mit langen Peitschen geknallt.
"Kimmt da Hirt mit seiner Girt…"
Übersetzt heißt das "Kommt der Hirte mit seiner Gerte" und es ist die erste Zeile des traditionellen Hirtenspruchs, der bei den Kindergruppen, aber auch bei den großen Treffen in Rinchnach und Bodenmais vom "Herderer", also dem Anführer der Gruppe, vor dem Läuten aufgesagt wird.
Der Hirtenspruch verweist auf die Herkunft des Brauchs: Früher zogen damit in der Nacht auf den Martinstag, einem üblichen Zahltag, die Viehhirten, Hüterbuben und Dienstboten zu den Bauern, trieben damit am Ende des Weidejahres ihren Lohn oder zumindest einen Obolus ein. Man nennt es deshalb bis heute auch vielerorts simpel das "Martini-Gehen".
Freibier für die Hirten
Um 1885 durften zum Beispiel in Bodenmais, so der Volkskundler Dr. Reinhard Haller, nur die Buben herumziehen, die den Sommer über tatsächlich Vieh gehütet hatten. Sie bekamen dann zum Beispiel im Wirtshaus von den "Weide-Rechtlern", deren Vieh sie gehütet hatten, eine Maß Bier gezahlt. Aber schon früher war das "Wolfauslassen" oder "Wolfaustreiben" oft so sehr mit Lärm und Zechen verbunden, dass es teils sogar verboten wurde:
"Es ergeht der Auftrag, in der Gemeinde bekannt zu geben, dass das Lärmen zur Nachtzeit mittels starken Peitschenknallens und Glockengeschells innerhalb der Ortschaften strafrechtlich geahndet wird." Ein Ausschnitt aus dem Amts-Blatt für das Königliche Bezirksamt Regen von 1904, aus dem Buch "Bodenmais und die Bomoesser" von Dr. Reinhard Haller. Die "Gendarmerie" solle "energisch einschreiten", wenn die nächtliche Ruhe gestört wird, steht dort weiter.
Wölfe und Bären mit Lärm vertreiben
Viel beliebter ist es heute, dem Wolfauslasserbrauch einen mystischen Ursprung zu verpassen. Einst sollen die Bayerwäldler damit lautstark Wölfe und Bären vertrieben haben, wird gern erzählt, wobei das ja eher zu Beginn der Weidesaison Sinn machen würde, aber nicht am Ende, wenn das Vieh wieder im geschützten Stall zurück ist.
Aber auch der Wissenschaftler Reinhard Haller geht davon aus, dass die Bezeichnung "Wolfauslassen" auf eine Auseinandersetzung der frühen Siedler mit Wölfen und anderen Wildtieren hindeutet.
Lautstarke Erinnerung an alte Zeiten
Die Frage, woher der Brauch wirklich kommt, bleibe ungelöst. Die Brauchelemente seien alt, Lärmen im Spätherbst und Winter auch bei anderen Bräuchen üblich. Aus dem Hirtenspruch, der wohl erst später dazu kam, ergibt sich eine klare Verbindung zum Eintreiben des Hütelohns. Denn in diesem Spruch fordert der Hirte vom Bauern seinen Lohn für den anstrengenden Hütesommer, in dem er auch "in Renga und Wind", also bei schlechtem Wetter, täglich raus musste.
Heute jedenfalls wird der Brauch in Orten wie Rinchnach und Bodenmais mit intensiver Liebe zur Tradition gepflegt, als lautstarke Erinnerung an alte Zeiten.
- Zum Artikel: "Die Rückkehr der Wölfe in Bayern"
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