Schon beim Betreten der Fachschule in Lichtenfels wird deutlich, worum es in dem historischen Gebäude geht. Im Flur vor einem Klassenraum stehen meterhohe Weiden in Eimern, die weißen Wände zieren rote Flechtmuster. Die Staatliche Berufsfachschule für Flechtwerkgestaltung ist die einzige ihrer Art in Deutschland – wenig verwunderlich, dass sie in der "Korbstadt" Lichtenfels steht.
Das Handwerk hat in der Region eine jahrhundertealte Tradition und war lange Zeit wirtschaftlicher Motor. 1904 als "Königliche Fachschule für Korbflechterei" gegründet, hat sich die Schule gewandelt und sucht nach Wegen, neue Schülerinnen und Schüler zu gewinnen.
Vermittlung der Basics in drei Ausbildungsjahren
Ruhig erklärt Fachlehrer Stefan Meiners einer Schülerin im ersten Ausbildungsjahr, wie sie die Bänder durch einen Rahmen fädeln muss. An diesem Morgen geht es im Praxisunterricht um ein Achteckgeflecht, ein typisches Muster, das vor allem durch die Sitzflächen der traditionellen Wiener Kaffeehausstühle bekannt ist.
Die 19-jährige Schülerin Melina Weißmann aus Augsburg schaut genau zu und versucht sich anschließend gleich selbst wieder am Rahmen. Nach der Schule wollte sie einen alten Handwerksberuf lernen, bei dem keine Maschinen zum Einsatz kommen, erklärt sie dabei. Durch Zufall sei sie im Internet auf die Schule in Lichtenfels gestoßen. Neben dem Rahmenflechten geht es in den drei Ausbildungsjahren vor allem um die Basics, also um Wäschekörbe, Möbel und die Feinflechterei, so Fachlehrer Stefan Meiners.
Handwerk und Nachhaltigkeit
Flechten ist Handwerk, im wahrsten Sinne. Bis auf wenige Hilfsmittel entstehen die Waren durch Handarbeit. In großen Blechwannen in den Klassenräumen weichen die Weiden ein, damit sie gebogen und verarbeitet werden können.
Das Erschaffen und vor allem die Nachhaltigkeit faszinieren auch Debora Weißbrod aus Niedersachsen. Einen Korb zu erschaffen, der 25 Jahre halte und danach repariert werden könne, anstatt auf dem Müll zu landen, mache sie glücklich. Die 38-Jährige ist ebenfalls im ersten Lehrjahr. Ihren alten Job aufgegeben zu haben und in Oberfranken eine neue Herausforderung zu suchen, bereut sie überhaupt nicht. Hier fühle sie sich am richtigen Platz.
Altes Handwerk – moderner Unterricht
So wie Debora Weißbrod geht es vielen Schülerinnen und Schülern in Lichtenfels. Etwas mit den eigenen Händen zu schaffen, das auch noch nachhaltig ist, fasziniert. Die Klassen sind bunt gemischt, hier sitzen Interessierte aus ganz Deutschland und dem Ausland im Alter zwischen 18 und 58 Jahren. Der Unterricht ist praxisnah, auch wenn der Unterricht teilweise in Klassenzimmern mit Whiteboard und Tafel stattfindet.
Zwar ist das Flechten ein altes Handwerk, dennoch haben im Unterricht längst moderne Hilfs- und Lehrmittel Einzug gehalten, erzählt Fachlehrer Stefan Meiners. Die Zeiten der reinen "Korbmacher" sind vorbei. Computerprogramme und Tablets helfen beim Entwerfen von großen Möbeln und künstlerischen Objekten.
Sinkende Schülerzahlen – erhoffte Trendumkehr
Das Flechthandwerk ist immaterielles Kulturgut, die Schule in Lichtenfels feiert in diesem Jahr ihr 120. Jubiläum. Doch wie in vielen Ausbildungsberufen sorgen sich auch die Verantwortlichen in Lichtenfels um den schulischen Nachwuchs. Fachlehrer Stefan Meiners hat hier vor zwanzig Jahren selbst gelernt, in größeren Klassen als heute.
23 Schülerinnen und Schüler lernen das Handwerk momentan, elf von ihnen verlassen die Schule mit ihrem Abschluss vor den Sommerferien. Damit bewege man sich schon im unteren Grenzbereich, erzählt Meiners. Um die Ausbildung vor allem für junge Menschen attraktiv und sichtbar zu machen, will die Schule stärker in sozialen Medien wie Instagram und Facebook aktiv sein. Dort könne man durch Bilder und Videos gezielt vor allem junge Menschen erreichen, über Emotionen abholen und das Interesse an einer Ausbildung wecken. Er ist überzeugt: "Es ist nicht altbacken, was wir hier machen."
Geflochtene Urne als Abschlussstück
Wie vielfältig das Flechthandwerk ist und welche Verdienstmöglichkeiten im Anschluss möglich sind, beweisen die Abschlussstücke der Absolventen. Daniela Witzgall aus Bamberg arbeitet im palliativen Bereich und hat dadurch inspiriert eine Schmuckurne in Feinflechttechnik geschaffen. Auf den ersten Blick ist der geflochtene, schlichte Korpus nicht als Urne zu erkennen. Bei genauer Betrachtung fallen viele Details und geometrische Formen auf.
Daniela Witzgall steht bereits in Kontakt mit einem Bestattungsunternehmen, das Interesse an geflochtenen Urnen hat. Sie selbst hätte zu Beginn der Ausbildung nicht vermutet, dass ihr die Feinflechterei liege. Schließlich werden die dünnen Weidenzweige dabei nochmals in drei Teile gespalten.
Im Flechten habe sie ihr Glück gefunden. Auch mit Ende 30 sei es noch eine kluge Entscheidung gewesen, etwas Neues zu probieren, sagt sie.
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