In der Flugblatt-Affäre um Hubert Aiwanger hat sich ein weiterer Zeuge gemeldet, der in Kontakt mit dem Bruder des Freie-Wähler-Chefs steht. "Ich bin seit circa 13 Jahren in Kenntnis", schreibt Anton Rederer dem BR in einer eidesstattlichen Versicherung, "dass Helmut Aiwanger zu Schulzeiten ein Flugblatt verfasst und ausgelegt hat, für dessen Urheberschaft seinerzeit jedoch sein Bruder Hubert Aiwanger sanktioniert wurde". Die Bild-Zeitung berichtete darüber zuerst.
Helmut Aiwanger habe Flugblatt verfasst und ausgelegt
Anton Rederer ist Rettungsassistent und lebt in Neufahrn in Niederbayern. Seinen Angaben zufolge kennt er Helmut Aiwanger bereits seit seiner frühen Jugend. Er habe über Schulfreunde und Bekannte zunächst losen Kontakt gehabt, sei Helmut Aiwanger immer wieder in der Disko begegnet. Vor gut 20 Jahren sei der Kontakt enger geworden, weil Rederer einen Jägerschein machte und Kunde im Waffengeschäft von Helmut Aiwanger wurde. Seit gut 15 Jahren seien sie befreundet.
An einem Abend, vor etwa 13 Jahren, so erinnert sich Rederer, saßen Helmut Aiwanger und er zusammen. "Ich erinnere mich an ein Gespräch am Lagerfeuer, in dem es um Dinge aus der Jugend ging", schreibt Rederer. Zum Beispiel: Scharmützel mit Lehrern und Verfehlungen in der Schulzeit. "Im Verlauf erzählte mir Helmut Aiwanger, dass er eine Klasse wiederholen musste und deshalb sehr frustriert und verärgert war, zumal er mit einem Teil der Lehrerschaft ohnehin kein gutes Verhältnis hatte. Er habe deshalb ein Flugblatt verfasst und ausgelegt, dessen Inhalt er als Satire und Provokation bezeichnete, um seine Lehrer zu verärgern."
Allerdings: Über den Inhalt des Flugblattes sprachen Anton Rederer und Helmut Aiwanger damals nicht. "Ich kannte den Inhalt des Schreibens nicht." Deshalb ist nicht zweifelsfrei geklärt, ob es sich um das Hetzblatt handelt, das in Hubert Aiwangers Schulranzen gefunden wurde. Dafür spricht aber, dass sich Hubert Aiwanger an "keine weiteren Flugblätter meines Bruders" erinnern könne, wie er in den Antworten auf den Fragenkatalog von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) schreibt.
Helmut Aiwanger hat Verantwortung übernommen
Ende August hatte die "Süddeutsche Zeitung" über ein menschenverachtendes Flugblatt berichtet, das im Schuljahr 1987/88 an Aiwangers damaliger Schule, dem Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg, gefunden wurde. In dem Blatt geht es um einen fiktiven Bundeswettbewerb, in dem "der größte Vaterlandsverräter" gesucht wird. Der erste Preis: ein "Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz".
Das Flugblatt wurde in der Schultasche des Schülers Hubert Aiwanger gefunden, gegen den ein Disziplinarverfahren angestrengt wurde. Hubert Aiwanger bestreitet heute allerdings, das Flugblatt verfasst zu haben. Kurz nach der Veröffentlichung der SZ übernahm sein Bruder Helmut die Verantwortung.
Weiterhin viele offene Fragen
Viele Fragen sind allerdings noch offen: Warum hatte Hubert Aiwanger das Flugblatt in der Tasche? Warum fiel der Verdacht seinerzeit überhaupt auf ihn? Warum wurde seine Tasche überhaupt durchsucht? Und: Warum haben die Brüder Aiwanger nicht schon vor der Veröffentlichung der SZ aufgeklärt?
Zahlreiche Zeugen haben sich geäußert
In den vergangenen Tagen haben Reporterinnen und Reporter des BR mit mehreren Mitschülern und Lehrern Aiwangers gesprochen. Einige schildern Aiwanger als unauffälligen Schüler, andere erheben schwere Vorwürfe. Die meisten wollen anonym bleiben.
Einer, der sich offen geäußert hat, ist Mario Bauer, der drei Jahre lang mit Hubert Aiwanger in eine Klasse ging. Im Interview mit dem ARD-Magazin "report München" erzählte er, dass Aiwanger den Hitlergruß gezeigt und "judenfeindliche Witze über Auschwitz und so weiter" erzählt habe. Zu "hundert Prozent" sicher sei er sich da. Auch ein anderer Mitschüler berichtet dem BR von judenfeindlichen Witzen. Auch er hat eine eidesstattliche Versicherung abgegeben. Andere Medien berichten von weiteren Zeugenaussagen: Aiwanger habe Hitlers "Mein Kampf" in der Schultasche gehabt, vor dem Spiegel Hitler Reden einstudiert oder einen Schulordner besessen, auf dessen Innenseite die Beschimpfung stand: "Schwarzbraun ist die Negersau".
Entschuldigung und Schmutzkampagne
Hubert Aiwanger hat sich inzwischen entschuldigt. Er bereue zutiefst, "wenn ich durch mein Verhalten in Bezug auf das in Rede stehende Pamphlet oder weitere Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit Gefühle verletzt habe. Meine aufrichtige Entschuldigung gilt zuvorderst allen Opfern des NS-Regimes, deren Hinterbliebenen und allen Beteiligten an der wertvollen Erinnerungsarbeit."
Allerdings: Er wies zurück, Hitler-Reden vor dem Spiegel einstudiert zu haben. An andere Vorwürfe könne er sich nicht erinnern. "Ich habe den Eindruck, ich soll politisch und persönlich fertiggemacht werden."
Freie Wähler nahmen mehrfach Kontakt mit Lehrer auf
Indessen wirft eine weitere Recherche des BR im Umfeld des früheren Lehrers von Aiwanger, der den Fall ins Rollen brachte, indem er das Original-Flugblatt der "Süddeutschen Zeitung" zuspielte, weitere Fragen auf. Bereits bevor die Flugblatt-Affäre in der Presse publik gemacht wurde, vergewisserte sich Aiwanger laut BR-Informationen, ob ihm in dem Fall Gefahr drohe.
Im Interview mit dem BR erklärt der frühere Lehrer, Aiwanger habe seine Parteifreundin und Freie-Wähler-Landtagsabgeordnete Jutta Widmann in der Vergangenheit mehrfach zu ihm geschickt. Seine Äußerungen versicherte der Lehrer in einer eidesstattlichen Erklärung: "Jutta Widmann hat zweimal Kontakt zu mir aufgenommen. Und zwar 2008 persönlich in Mallersdorf, mit der Anfrage, ob Gefahr von mir drohe." Ein zweites Mal habe sie sich kurz vor der Berichterstattung über das Flugblatt durch die "Süddeutsche Zeitung" telefonisch bei ihm gemeldet.
Von Hubert vorgeschickt – "wenn es brenzlig wird"
Was folgt, ist ein Chatverlauf vom 18. August 2023, wenige Tage bevor die Vorwürfe gegen Hubert Aiwanger öffentlich gemacht wurden. Die Nachrichten liegen dem BR vor, auch diese Inhalte versicherte der Lehrer an Eides statt. Nach dem Anruf von Widmann schrieb der Lehrer als Nachtrag zum Telefonat am Vortag: "Hast du dich schon mal gefragt, warum der Hubert immer dich vorschickt, wenn es für ihn brenzlig wird?" Aiwanger missbrauche das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen der Landtagsabgeordneten und dem früheren Lehrer: "Warum meldet sich der Feigling nicht selber bei mir, dann könnte man Klartext reden", so der frühere Lehrer.
In ihrer Antwort bedankt sich Widmann für die Klarstellung. Generell seien Gespräche wichtig, auch mal auf sachlicher Ebene. Mit Beteiligten sei das oft schwierig. "Offenheit und Ehrlichkeit währt am längsten", schließt Widmann ihre Antwort.
Die Freie-Wähler-Landtagsabgeordnete Jutta Widmann ließ mehrere Anfragen des Bayerischen Rundfunks zu dem Fall unbeantwortet. Offen bleiben deswegen viele Fragen. Seit wann wusste Widmann von dem Flugblatt und der Urheberschaft? Warum wollte sie bereits vor etwa 15 Jahren wissen, ob von dem Lehrer eine Gefahr für Aiwanger ausgehe? Unklar ist auch, ob Widmann eigenständig oder im Auftrag von Hubert Aiwanger handelte, und was sie erreichen wollte.
Aiwanger im Zwischenausschuss des Landtags
Vergangene Woche hat Aiwanger zudem 25 Fragen der Staatskanzlei zu der Affäre beantwortet. Daraus gehen allerdings nur wenige Erkenntnisse hervor. Größtenteils verweist der Wirtschaftsminister auf Erinnerungslücken.
Seit Ministerpräsident Söder am Sonntag die Entscheidung verkündet hat, an seinem Vize trotz der Vorwürfe festzuhalten, hat sich Aiwanger in der Öffentlichkeit nicht mehr dazu geäußert. Morgen kommt – auf Antrag der Opposition – der Zwischenausschuss des bayerischen Landtags zusammen. Aiwanger hat sein Kommen angekündigt. Ob er sich äußern wird, ist unklar.
Video: BR extra (03.09.2023): "Söder hält an Aiwanger fest"
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