Interpol genießt eigentlich einen weltweit guten Ruf. Will eine Polizeibehörde nach einem mutmaßlichen Straftäter international fahnden lassen, dann schreibt diese eine sogenannte "Red Notice" an Interpol. Die zwischenstaatliche kriminalpolizeiliche Organisation konnte mit solchen Fahndungsaufrufen zur Festnahme zahlreicher Schwerverbrecher beitragen. Der gute Ruf könnte jedoch in den kommenden Tagen erheblichen Schaden nehmen. Der Grund sind die Kandidaten für den Präsidentenposten.
Entführungen und Folter: Vorwürfe gegen einen Kandidaten
Ab Dienstag tagt die 89. Interpol-Generalversammlung in Istanbul und bereits im Vorfeld schlagen internationale Menschenrechtsorganisationen Alarm. Voraussichtlich am Donnerstag soll ein neuer Präsident gewählt werden. Die tschechische Polizei hat als Kandidatin das Interpolpräsidiumsmitglied Sarka Havrankova nominiert.
Der zweite Kandidat heißt Ahmed Nasser Al-Raisi, Generalmajor der Vereinigten Arabischen Emirate. Menschenrechtsaktivisten erheben schwere Vorwürfe gegen Al-Raisi. Er soll als leitender Beamter des Innenministeriums mitverantwortlich für Entführungen und Folter sein. Die Organisation Human Rights Watch hat zahlreiche Übergriffe von emiratischen Sicherheitskräften gegen Oppositionelle dokumentiert. Eines der Opfer staatlicher Willkür ist der seit 2017 inhaftierte Menschenrechtsaktivist Ahmed Mansoor. Weil er unter "mittelalterlichen Bedingungen, die Folter ähneln", eingesperrt sein soll, wird in Frankreich gegen Generalmajor Al-Raisi geklagt.
Klage auch in der Türkei
Auch in der Türkei wurde im Vorfeld der Generalversammlung von der Menschenrechtsorganisation "Gulf Centre for Human Rights" Klage eingereicht, um die Aufmerksamkeit für den Vorgang zu erhöhen. Die von der Organisation beauftragte Anwältin Gizem Rodoplu zählt im Interview mit der ARD auf, Mansoor werde in einer Zelle ohne Lichteinfall festgehalten und sehe 22 Stunden am Tag keinen Menschen. Die Zelle sei 4 Quadratmeter groß. Bücher, Radio oder Fernseher seien verboten. Ein Gericht habe Mansoor zu zehn Jahren Haft, unter anderem wegen der Verbreitung von Falschinformationen und Lügen über die Vereinigten Arabischen Emirate verurteilt. Eine gängige Methode in autoritär regierten Ländern, um Kritiker mundtot zu machen. Sollte Al-Raisi gewählt werden, so die Istanbuler Anwältin, sei zu befürchten, dass Interpol bei Menschenrechtsverstößen in Zukunft beide Augen zudrückt.
Bundestags-Abgeordnete beunruhigt über Kandidatur al-Raisis
Auch im deutschen Bundestag gibt Widerstand gegen die Personalie. Die Abgeordneten Kai Gehring, Bündnis90/die Grünen, Frank Schwabe, SPD und Peter Heidt, FDP, zeigen sich in einer gemeinsamen Erklärung "zutiefst beunruhigt angesichts der Berichte über die Kandidatur des emiratischen Generalmajors." Die Parlamentarier verweisen auf Artikel zwei der Interpol-Statuten. Dort wird als Ziel der Organisation eine gegenseitige Unterstützung der kriminalpolizeilichen Behörden auch im Geiste der Menschenrechte genannt. Eine Ernennung Al-Raisis stünde "in eklatanten Widerspruch zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte". Der Generalmajor sitze als Inspekteur des Innenministeriums der Vereinigten Arabischen Emirate an der Spitze eines repressiven Strafrechtssystems und sei direkt in Menschenrechtsverletzungen in einer Reihe von hochkarätigen Fällen verwickelt, so die Abgeordneten.
Missbrauch von Fahndungsaufrufen befürchtet
Sämtliche Kritiker der möglichen Wahl des Generalmajors betonen, die Emirate haben in der Vergangenheit das "Red Notice"-System missbraucht, um flüchtige politische Gegnerinnen und Gegner festzunehmen. Offenbar ist die Sorge groß, dass Interpol politisch motivierte Fahndungsaufrufe von autoritären Regimen nach einer Wahl Al-Raisis in Zukunft an internationale Polizeibehörden weiterleitet, statt zurückzuweisen.
Selbst bei der Organisation Interpol scheint die Begeisterung für eine Wahl Al-Raisis nicht allzu groß zu sein. In einer E-Mail an die ARD stellt die Interpol-Pressestelle klar, der Präsident von Interpol sei nicht gleichzeitig Chef der Organisation. Vielmehr führe der der 2014 gewählte Generalsekretär die operativen Geschäfte und das sei Jürgen Stock, der frühere Vizepräsident des Bundeskriminalamts. Kurzum, Al-Raisi habe, sollte er gewählt werden, nichts zu sagen.
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