Wenn der Münchner Richter Jürgen Schmid an Femizide denkt, erinnert er sich unweigerlich an ein Scheidungsverfahren aus dem Jahr 2006, das er selbst verhandelt hat. Zwei Stunden nach der Gerichtsverhandlung, als die Frau mit ihrem fünfjährigen Sohn auf dem Nachhauseweg war, wurde sie von ihrem Ex-Mann ermordet. Er hatte sie mit Benzin übergossen und angezündet. "Als erstes fragt man sich natürlich, was hätte man tun können, es zu verhindern", erzählt Schmid. "Ich habe zum Glück damals alles an die Polizei weitergeschickt."
Femizid: Statistisch gesehen jeden dritten Tag ein Opfer
"Die Schläge, die meine Mama bekam, spürte ich in meinem Bauch." Diesen Satz soll ein Kind in einem Salzburger Frauenhaus gesagt haben, erzählt Sibylle Stotz vom Verein Frauen helfen Frauen. Sie hat im Jahr 1977 das erste Frauenhaus in Bayern gegründet.
Laut Statistik stirbt in Deutschland jeden dritten Tag eine Frau durch Femizid. In Bayern gab es 2021 laut polizeilicher Kriminalstatistik 23 Morde und 17 versuchte Morde. Als Femizid wird die vorsätzliche Tötung von Frauen oder Mädchen aufgrund ihres Geschlechts bezeichnet.
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Neuer Fragebogen für Familien-Gerichtsverfahren
Um Kinder wie das aus Salzburg zu schützen und um Femizide zu verhindern, sagt Stotz, müssten gewaltbereite Männer besser eingeschätzt werden. Femizide kündigten sich in der Regel an, meist mit Morddrohungen und schwerer häuslicher Gewalt. Besonders heikel werde es, wenn sich eine Frau scheiden lassen wolle.
Mit einem Münchner Arbeitskreis, dem auch Richter Jürgen Schmid angehört, hat Stotz deshalb einen Fragebogen entwickelt. Der soll bei Familien-Gerichtsverfahren helfen: Wenn beispielsweise ein Mann bereits gewalttätig geworden ist und sich die Frau scheiden lassen will, könnte der Fragebogen helfen, die Gewaltgeschichte darzustellen. "Meine Erfahrung ist, dass die künftige Sicherheit in solchen Verfahren oft zu kurz kommt", sagt Stotz.
Expertin: Sicherheit kommt in Familienrechtsverfahren oft zu kurz
Der Fragebogen könnte sich also auf einen möglichen weiteren Umgang mit Kindern oder Annäherungsauflagen auswirken. Muss der Mann ein Tätertraining absolvieren? Für welchen Zeitraum soll der Umgang komplett ausgesetzt werden? Brauchen die Kinder einen Therapieplatz? Und das wiederum könnte im Zweifel Femizide verhindern. Denn in einem Scheidungsverfahren würde die Gewaltgeschichte manchmal durchaus verzerrt dargestellt. Je nachdem, welchem Gutachten, Schriftstück oder Bericht man glauben will. Der Fragebogen soll dafür sorgen, dass die Gewalt dokumentiert wird und sichtbar bleibt.
Grüne: Mehr in Schutz, Präventions- und Täterarbeit investieren
Auch die Fraktionsvorsitzende der Landtagsgrünen Katharina Schulze findet: Der Freistaat müsse mehr in Präventiv- und Anti-Aggressions-Arbeit investieren. "Dass wir uns nicht nur um den Schutz für die Frauen kümmern, sondern dass wir uns endlich einmal um das Problem kümmern." Das Problem, sagt Schulze, sind die Aggressoren. "Das sind die Männer, die Gewalt an Frauen ausüben und deswegen halte ich es für essenziell, dass wir die Täterarbeit intensivieren." Zudem fordert Schulze mehr Frauenhaus-Plätze und mehr finanzielle Unterstützung. In Bayern gibt es 400, es bräuchte aber mehr als dreimal so viele. Auch Sibylle Stotz beklagt, dass den Frauenhäusern Geld fehlt. Ihr Frauenhaus beispielsweise bräuchte dringend einen neuen Bus, um damit Frauen abholen zu können.
Rheinland-Pfalz: Wiederholungstaten zurückgegangen
In Rheinland-Pfalz hat man es laut dortigem Familienministerium geschafft Wiederholungstaten zu reduzieren. Im Rahmen des Programms RIGG (Rheinland-Pfälzisches Interventionsprojekt gegen Gewalt in engen sozialen Beziehungen) arbeiten die Behörden seit vielen Jahren mit ähnlichen Fragebögen, die eine Gefährlichkeitseinschätzung erlauben. Außerdem gibt es Fall-Konferenzen, in denen unter anderem Jugendamt, Polizei, Justiz sowie Frauenhilfe- und Täterarbeitseinrichtungen einen Maßnahmenplan erarbeiten. Laut einer Studie der Uni Koblenz-Landau werden 60 Prozent der Frauen nicht erneut zum Opfer, wenn ihr Fall in einer interdisziplinären Fall-Konferenz besprochen wurde.
Staatsregierung will Fragebogen und vereinzelt Fall-Konferenzen nutzen
Auch die Bayerische Polizei führt laut Innenministerium grundsätzlich in einem jeden Fall von Häuslicher Gewalt eine Gefährdungseinschätzung durch. Lägen Anhaltspunkte für einen Hochrisikofall vor, würden auch Einzelfallbesprechungen geprüft. Außerdem teilte das Ministerium mit, dass der in München entwickelte Fragebogen „regelhaft zur Anwendung kommen“ soll, wenn ein Gerichtsverfahren wegen Umgang und Sorgerechtsfragen im Raum steht.
Wissenswertes:
Um die Gefahr von gewalttätigen Männern zu analysieren, gibt es bereits ähnliche Fragebögen. Sie dienen dazu unmittelbare Gewalt-Eskalationen vorherzusagen. „Eine Art Schnellcheck für die Polizei“, erklärt Sibylle Stotz vom Verein Frauen helfen Frauen. Weltweit durchgesetzt haben sich der Odara-Fragebogen, der für Kanada entwickelt wurde, und der Campbell-Fragebogen aus Amerika. Gefragt wird etwa, ob es schon Gewalt gab, ob Mord-Drohungen ausgesprochen wurden oder die Frau permanent kontrolliert wird. Ab einer bestimmten Punktzahl wird der Fall als Hochrisikofall eingestuft. Der Münchner Fragebogen berücksichtigt nun erstmals auch das Umgangsrecht mit Kindern.
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