Wenn Ulrike von der Kindertagesstätte in Niederbayern erzählt, in der sie früher gearbeitet hat, hat sie Tränen in den Augen. Ulrike heißt eigentlich anders, aber sie hat Angst, als Nestbeschmutzerin zu gelten, deshalb bleibt sie anonym. Der Umgangston in der Kita war rau, erzählt Ulrike.
Sie zeigt BR Recherche Chatverläufe und ein Tagebuch. Darin stehen Sätze wie diese: "Kinder bekamen nichts zu trinken, weil sie ja sonst auf’s Klo müssten." Sie habe es kaum ertragen können, meint die Erzieherin: "Am schlimmsten war: So lange ich dort war, habe ich mich mitschuldig gemacht. Ich konnte vorher nichts sagen, ich brauchte die Stelle ja."
Seelische oder körperliche Gewalt gegen Kita-Kinder
BR Recherche hat mit 61 Erzieherinnen, Erziehern und Kita-Leitungen Gespräche geführt. Ihre Berichte klingen erschreckend: "Ein Kind hat Sprachprobleme. Im Morgenkreis äfft die Erzieherin immer wieder das Stocken und Stottern nach. Die anderen Kinder lachen." / "Meine Kollegin schiebt einem Kind Kartoffeln in den Mund. Dabei hält sie die Hände fest und die Nase zu, damit das Kind schluckt." / "Ein Kind wird immer auf dem Klo eingesperrt, wenn es sich 'nicht benimmt'."
Nur zwei Interviewpartnerinnen gaben an, noch nie seelische oder körperliche Gewalt gegen Krippen- oder Kindergartenkinder erlebt zu haben.
BR-Umfrage: Zahl der Meldungen deutlich höher als 2021
BR Recherche hat eine Umfrage unter 76 Kita-Aufsichtsbehörden im Freistaat durchgeführt. 59 haben geantwortet. Demnach wurden heuer bis Anfang Dezember 232 Verdachtsfälle gemeldet, im vergangenen Jahr waren es 129. Besonders auffällig sind demnach Verstöße gegen die Aufsichtspflicht, sie haben sich mehr als verdoppelt (2021: 24, 2022: 57 Fälle). Ähnlich verhält es sich bei den Meldungen zu seelischer Gewalt (2021:16, 2022: 32 Fälle). Auch die Meldefälle von körperlicher Gewalt gegenüber Kindern sind angestiegen (2021: 43 Fälle, 2022: 59 Fälle).
Vergangenes Jahr haben 21 Kita-Aufsichten nach eigenen Angaben keine Meldung erhalten. Dieses Jahr geben nur elf Behörden an, keinen einzigen Verdachtsfall zu haben. Personalmangel dagegen bestätigen alle Behörden für die Kitas in ihrem Landkreis oder ihrer Stadt. Ein Großteil sieht darin einen Risikofaktor für verletzendes Verhalten. Die meisten Behörden wollen anonym bleiben.
Verschiedene Formen von Fehlverhalten
Das Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz (IFP) am bayerischen Sozialministerium fasst unter dem Oberbegriff "Grenzüberschreitungen" Folgendes zusammen: Unter seelische Gewalt etwa fällt Abwerten, Ausgrenzen oder Beschämen. Ein Beispiel: Mehrere Fachkräfte berichteten dem BR von Kindern mit Sprachstörungen, die nachgeäfft wurden. Dagegen versteht man unter seelischer Vernachlässigung unter anderem Ignorieren oder Trost Verweigern. In den 61 Gesprächen mit Kita-Personal war dies häufig Thema, meist in Zusammenhang mit Personalmangel und Überlastung. Viele der Gesprächspartnerinnen berichteten von körperlicher Gewalt, wie etwa Festbinden, Einsperren oder Essenszwang. Körperliche Vernachlässigung ist der BR-Umfrage unter den Kita-Aufsichten zufolge seltener: Sie registrierten vergangenes Jahr 4 Fälle, heuer 16 Fälle. Einige Erzieherinnen schilderten dem BR, dass sie es nicht schafften, Kinder zu wickeln oder Babys zu füttern.
Auch Vernachlässigung der Aufsichtspflicht kann Kinder gefährden, etwa wenn diese allein gelassen werden oder ihnen nicht geholfen wird. In Gesprächen mit dem BR gaben viele pädagogische Fachkräfte an, wegen Unterbesetzung häufig gegen die Aufsichtspflicht zu verstoßen. Sexualisierte Gewalt reicht laut IFP von Küssen bis zum Missbrauch. Laut BR-Umfrage registrierten Kita-Aufsichten im vergangenen Jahr 14 und in diesem Jahr bisher 20 Verdachtsfälle.
Bayerischer Kita-Fachkräfteverband: "Zahlen verwundern nicht"
Lisa Pfeiffer vom Verband Kita-Fachkräfte Bayern e.V. wundert sich nicht über den Anstieg der Verdachtsfälle. Die Meldungen zu Aufsichtspflichtverletzungen führt sie auf Personalmangel und Unterbesetzung zurück: "Wir erleben es tagtäglich in der Praxis. Das liegt auch an der ständigen Überlastung der Kollegen und an immer mehr Krankmeldungen, die wiederum mehr Stress für das übrige Personal zur Folge haben – und dann kann es zu mehr Grenzverletzungen kommen."
Es sei in vielen Einrichtungen ein regelrechter Teufelskreis. Deswegen betont Lisa Pfeiffer, sei es wichtig, offen über das Thema Gewalt in der Kita zu sprechen – ohne das Kita-Personal zu stigmatisieren. Denn zu den Ursachen von Grenzverletzungen gegenüber Kindern zählen nicht nur Überforderung, sondern auch mangelndes Wissen und Prägungen aus der eigenen Kindheit. "Wir sehen eine Gefahr darin, um jeden Preis Personal in die Einrichtungen zu holen, wir brauchen gutes und gut ausgebildetes Personal, das auch mit Stress-Situationen umgehen kann."
Der BR hat auch das bayerische Sozialministerium angefragt. Es will sich zu dem Anstieg der Verdachtsfälle nicht äußern, da es die BR-Umfrage nicht kenne. Es schreibt aber: "Grundsätzlich gilt, dass funktionierender Kinderschutz Achtsamkeit voraussetzt. Nur wer hinschaut, kann auch Verdachtsmomente erkennen."
Bekannte Fälle nur Spitze des Eisbergs?
Die tatsächlichen Zahlen müssen höher sein: Denn in der BR-Umfrage geben zehn Behörden an, sie hätten Meldungen, würden diese aber nicht zählen. Ein Landratsamt schreibt: "Die Dunkelziffer ist vermutlich höher."
Viele Fälle werden nicht gemeldet. Das lässt sich aus den 61 Gesprächen mit Kita-Mitarbeitenden ableiten: Nach eigenen Angaben haben nur wenige Erzieherinnen die Vorfälle der Kita-Leitung, dem Träger oder sogar der Kita-Aufsicht gemeldet. Dem BR liegen entsprechende Mails und Gefährdungsanzeigen vor.
Verletzendes Verhalten hat Folgen für Kinder
Das Institut für frühkindliche Pädagogik warnt, dass Grenzüberschreitungen in Kitas zu oft unbeachtet bleiben oder bagatellisiert werden. Im sogenannten "Leitfaden zur Sicherung des Schutzauftrags in Kindertageseinrichtungen" heißt es, Grenzverletzungen hätten Folgen für Kinder: "Dabei können sich die körperlichen und seelischen Verletzungen je nach Temperament des Kindes in auffälligem Verhalten (z.B. erhöhter Feindseligkeit) oder psychosomatischen Beschwerden (z.B. Übelkeit, Bauchschmerzen) äußern. Langfristige Folgen können Entwicklungsauffälligkeiten (z.B. kognitive Beeinträchtigungen) und psychische Erkrankungen (z.B. Traumafolgestörung) sein."
Politik will Kinderschutz in Kitas stärken
Im Freistaat ist das Sozialministerium die oberste Kita-Aufsicht. Auf Anfrage bezeichnet es einrichtungsbezogene Schutzkonzepte - die auch Gewalt von Kita-Personal verhindern sollen - als notwendigen und wichtigen Baustein.
Solche Konzepte sind seit Juni 2021 im Sozialgesetzbuch VIII festgeschrieben. Aber das Bundesgesetz hat Lücken: Es fehlt eine konkrete Frist, bis wann Kitas ein solches Konzept haben müssen. Außerdem wird nicht benannt, welche Kontrollaufgaben der Kita-Aufsicht in Landkreisen und kreisfreien Städten zukommen. Die Folge: Bayern ist in Sachen Schutzkonzept ein Flickenteppich an Regeln und Umsetzung.
Jede Kita-Aufsicht geht anders mit dem Schutzkonzept um
Aus der BR-Umfrage geht hervor, dass ein Landkreis in Unterfranken keine Schutzkonzepte verlangt. Ein Landkreis in Oberbayern lässt sich lediglich die Fertigstellung melden. Die meisten Kita-Aufsichten lesen und prüfen die Schutzkonzepte, wenige wollen sie künftig auch bei Besuchen in den Kitas kontrollieren. Und nur sieben Kita-Aufsichten halten es für möglich, dass sie Kitas die Betriebserlaubnis entziehen, wenn diese kein Schutzkonzept vorlegen.
Einige Landkreise schreiben dem BR, das bayerische Sozialministerium habe als Frist den 31. Dezember 2022 vorgegeben. Das bestätigt das Ministerium auf BR-Anfrage nicht: Fristen könnten nur die Kita-Aufsichten setzen. Dem Ministerium sei aber ein einheitlicher Vollzug in Bayern wichtig. Das ist nicht der Fall: Nur zwei Kita-Aufsichten haben bisher von allen Einrichtungen die Schutzkonzepte erhalten, fünf dagegen kein einziges. Im Schnitt liegen nach Angaben der befragten Aufsichtsbehörden bayernweit rund 40 Prozent der Konzepte vor.
Eltern und Kinder kaum in Schutzkonzept-Entwicklung eingebunden
Eigentlich soll jede Kita ihr einrichtungsbezogenes Schutzkonzept im Team erarbeiten und auch die Kinder und die Eltern einbinden. So steht es unter anderem im Leitfaden des IFP. Das ist nach Angaben der von BR Recherche befragten 61 Kita-Mitarbeitenden aber meist nicht der Fall: Demnach schicken einige Träger ihren Einrichtungen Konzepte zu, in vielen Kitas schreibt die Leitung das Konzept alleine. Als Grund geben die Erzieherinnen an, dass ihnen die Zeit und das Personal fehlt, um das Konzept wie vorgeschrieben zu erstellen.
Konzepte, meint Ulrike, die Erzieherin aus Niederbayern, dürfen nicht nur im Schrank stehen, sie müssen gelebt werden. Es müssten mehr Leute in den Kitas hinschauen und sich trauen, schlimme Vorfälle zu melden. "Ich hatte auch Angst davor, aber ich würde es inzwischen machen. Sonst ändert sich nichts. Es geht ja auch nicht nur um uns, sondern um die Kinder."
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