Ob die Union oder die SPD den nächsten Bundeskanzler stellt, ist derzeit noch offen. Im Scheinwerferlicht der Sondierungen in Berlin nach der Bundestagswahl stehen bislang vor allem Grüne und FDP. Schon jetzt ist davon auszugehen, dass beide Parteien der künftigen Bundesregierung angehören werden - eng und vertraulich will sich das grün-gelbe Führungspersonal auf dem Weg dahin absprechen.
Dass es bei aller demonstrativer Annäherung inhaltlich große Unterschiede zu überwinden gilt, zeigt sich am Dienstagabend bei der Premiere einer neuen BR24-Diskussionsrunde bei Twitter Spaces, dem Audiobereich des sozialen Netzwerks. Tempolimit ja oder nein? Schuldenbremse aussetzen oder nicht? Steuererhöhungen für Spitzenverdiener oder grundsätzlich keine höheren Steuern? Bei diesen und anderen Fragen sind sich die bayerische Grünen-Chefin Eva Lettenbauer und Martin Hagen, FDP-Fraktionschef im Landtag, nicht einig.
Lettenbauer: "Wahlverlierer" Union nicht sondierungsfähig
Das gilt auch für die favorisierte Koalition: Während Lettenbauer dem "Wahlverlierer" Union abspricht, überhaupt sondierungsfähig zu sein, lässt Hagen weiter Sympathien für ein Jamaika-Bündnis erkennen. Prompt will ein Zuhörer von ihm wissen, wie man den vielen jungen Wählern der Liberalen erklären will, wenn man mit der Union regieren sollte - die anders als die FDP etwa eine Cannabis-Legalisierung ablehnt. Zwar sei man bei solchen gesellschaftspolitischen Themen näher an der SPD, entgegnet Hagen. Bei der Mehrheit der Themen, etwa bei der Renten- oder Wirtschaftspolitik, stehe man aber der Union näher.
Ansonsten gilt in vergleichsweise kleiner bayerischer Runde, was aktuell auch für die große Bühne in Berlin gilt: Grüne und FDP zeigen sich offen für eine Zusammenarbeit. Lettenbauer fallen auf Nachfrage eines Zuhörers mehrere Politikfelder ein, in denen ihre Grünen und die Liberalen Gemeinsamkeiten haben: Staat und Verwaltung digitalisieren, Rechtsstaatlichkeit einfordern, die Situation von älteren Arbeitnehmern verbessern oder ein "echtes Einwanderungsgesetz" auf den Weg bringen. Hagen verweist an anderer Stelle darauf, dass beide Parteien eine sehr junge Wählerschaft hätten, "weit, weit vor den sogenannten Volksparteien". Und beim Klimaschutz sei man sich zwar nicht beim genauen Weg einig - sehr wohl aber beim gemeinsamen Ziel.
Hagen: "Versöhnung von Ökonomie und Ökologie"
Lettenbauer wiederum verteidigt auf Nachfrage von Moderatorin und BR-Redakteurin Eva Lell einerseits das Tempolimit. Andererseits macht sie es aus bayerischer Grünen-Sicht nicht zur Regierungsbedingung - die Sondierungsteams würden "genug Lösungen finden", um ausreichend CO2 einzusparen. Hagen sagt: Wenn man eine Regierung bilde, dürfe man sich "nicht im Klein-Klein verheddern". Eine Leitidee von Grünen und FDP in der Bundesregierung könnte laut ihm die "Versöhnung von Ökonomie und Ökologie" sein. (Ein Mantra übrigens, mit dem Baden-Württembergs Grünen-Ministerpräsident Winfried Kretschmann seit Jahren hantiert, also noch so eine rhetorische grün-gelbe Annäherung dieser Tage.)
Die aktuell größte Herausforderung im Sondierungs-Dschungel: Alle inhaltlichen Fragen sind bislang weitgehend Spekulation, wie BR-Hauptstadtkorrespondent Jan Zimmermann betont. Schließlich heißt Vertraulichkeit auch: keine wirklichen Details. Dieser Mittwoch werde ein entscheidender Tag, sagt Zimmermann, weil die Gremien von Grünen und FDP am Vormittag jeweils über das weitere Vorgehen beraten. Die Inhalte würden dann bald in den Vordergrund rücken. Und Zimmermann stellt mit Blick auf ein Ampel- oder Jamaika-Bündnis nochmal für Grüne und FDP klar: "Einer von beiden wird springen müssen" - seine Wunschkoalition also nicht bekommen.
Direkter Austausch mit dem Publikum
Die BR24-Debatte bei Twitter Spaces zeigt, dass der unmittelbare Austausch mit Zuhörerinnen und Zuhörern auch unerwartete Aspekte zur Sprache bringen kann. Fragen zur Wahlbeteiligung, zum Thema Rechtsextremismus in der Polizei und zum Einsparpotenzial im Staatsapparat - auch das ist Teil der Gesprächsrunde. Dazu kommen landespolitische Überlegungen: Sowohl Lettenbauer als auch Hagen gehen davon aus, dass eine Regierungsbeteiligung im Bund die eigenen Erfolgsaussichten bei der Landtagswahl 2023 eher erhöht. "Bayern braucht ja ganz dringend mal eine andere Regierung", findet Lettenbauer.
Die eigentliche Hauptfrage der Diskussion ("Zitronenbündnis: Wie vermitteln Grüne und FDP das der Basis?") lässt sich abschließend erst nach den Koalitionsverhandlungen beantworten. Einstweilen bleibt der ausdrücklich erklärte gute Wille zweier Parteien, die mit Blick auf die nächste Bundesregierung gerne als "Königsmacher" bezeichnet werden. Man müsse jetzt verantwortungsvoll mit dem Wahlergebnis umgehen, betont FDP-Politiker Hagen. Und die Grünen-Politikerin Lettenbauer sagt: Beide Parteien seien von Menschen gewählt worden, "die erwarten, dass wir ins Handeln kommen".
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