Vor dem Schweinfurter Landgericht hat am Donnerstagmorgen der Prozess gegen eine Mutter und einen Vater begonnen. Es geht um die Frage, ob sie für den Tod ihrer magersüchtigen und unterernährten Tochter verantwortlich sind. Die 16-Jährige starb im Dezember vor zwei Jahren.
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Eltern: Waren ganz normale Familie
Die Staatsanwaltschaft wirft den Eltern "Tod durch Unterlassen" vor. Die verstorbene Tochter litt an Magersucht. Bei der Sektion, so sagte es ein Polizist im Prozess, habe sie nur noch 19 Kilogramm gewogen.
Der Anwalt des Vaters verlas im Gerichtssaal eine Erklärung seines Mandanten, wonach er "Schuld auf sich geladen" habe. Der Tod der Tochter sei das Schlimmste, was der Familie hätte passieren können. Es vergehe kein Tag, an dem sie sich nicht an ihre Tochter erinnerten, sagte der Anwalt der Mutter in deren Namen. Und weiter: "Wir waren eine ganz normale Familie".
Notarzt konnte Leben nicht retten
Bis zu der Nacht vom 18. auf den 19. Dezember 2022. Die Tochter sei zuvor zusätzlich zu ihrer Magersucht erst an Corona, dann an einem Magen-Darm-Virus erkrankt. Sie schlief damals im Bett ihrer Eltern neben ihrer Mutter. Gegen drei Uhr morgens bemerkt diese, dass ihre Tochter krampfte. Sie rief den Notarzt und ihren Mann, sie starteten Wiederbelebungsversuche. Doch auch der Notarzt konnte das Leben der Tochter nicht mehr retten.
Selbstwertgefühl spielt wichtige Rolle bei Magersucht
Professor Marcel Romanos ist Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Würzburg. Für ihn kann eine Magersucht viele verschiedene Ursachen haben. "Aber was wir immer wieder nachvollziehen können ist, dass das Selbstwertgefühl eine zentrale Rolle spielt. Mädchen fühlen sich unsicher und gewinnen Sicherheit im Alltag darüber, dass sie Gewicht abnehmen", sagt der Mediziner.
Oft würden junge Frauen zuerst auch bestärkt werden wenn sie abnehmen, erhielten positives Feedback aus der Umgebung oder in der Familie. Dann aber, so Romanos, würden viele die Kontrolle über das Abnehmen verlieren – und irgendwann werde es auch gefährlich.
Krankheit ähnlich gefährlich wie Heroin
Charakteristisch für die Krankheit sei, dass die Betroffenen sich dicker vorkommen als sie in Wirklichkeit sind. Diese verzerrte Wahrnehmung sei wie ein Motor, der die Menschen dazu bringt, immer weiter abzunehmen, so Romanos. "Das ist eine schwere Erkrankung und ähnlich tödlich wie beispielsweise wenn Heroin intravenös gespritzt wird – ähnlich gefährlich."
Der Weg aus der Krankheit sei kein Sprint sondern ein Marathon. "Untergewicht führt zu Depression, Untergewicht führt zu ganz vielen körperlichen Nebenwirkungen." Man müsse erst das Gewicht wieder in einem gesunden Bereich bringen und dann gebe es die Psychotherapie mit vielen verschiedenen Bestandteilen.
Eltern wirkten vor Gericht erschüttert
Die Eltern wirkten an diesem Vormittag im Gericht erschüttert, vom Leben gezeichnet. Die Mutter weinte, während ihr Anwalt ihre Erklärung verlaß. Bei den Angaben zu ihrer Person zitterte ihre Stimme. Als die Vorsitzende Richterin sie fragte, ob die Erklärung ihr Wille sei, sagte sie aber mit fester Stimme: "Ja".
Die 16-jährige Tochter litt nach Angaben des Verteidigers unter Angststörungen, mied größere Menschenmengen. Ins Krankenhaus zu gehen, so ließen es ihre Eltern heute verlesen, das wäre für die Tochter schwer gewesen, das wollte sie nicht. Zuletzt trank sie nur noch Wasser und aß Salzstangen. Rückblickend, erklärte ein Anwalt des Vaters, hätte dieser dafür sorgen müssen, dass seine Tochter in ein Krankenhaus kommt.
Das Gericht in Schweinfurt muss nun klären, ob die Eltern für den Tod ihrer Tochter mitverantwortlich sind. Für den Prozess sind drei Verhandlungstage angesetzt.
💡 Magersucht - Wie erfolgreich ist eine Therapie?
Die Magersucht wird auch Anorexie oder Anorexia nervosa genannt. Sie ist eine schwerwiegende und meist sehr langwierige Erkrankung, die unbedingt behandelt werden muss.
Typisch für die Magersucht ist, dass Betroffene häufig auffallend dünn sind beziehungsweise stark an Gewicht verlieren. Sie selbst nehmen sich jedoch als unförmig und dick wahr. Aus Angst vor einer Gewichtszunahme schränken sie sich beim Essen immer mehr ein und nehmen daher weiter ab.
In einer Therapie wird ein symbolischer Keil zwischen die Krankheit und den Patienten getrieben, erklärt Professor Marcel Romanos, der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Würzburg. Betroffenen Menschen würde das oft nicht alleine gelingen.
Rund ein Drittel der Patienten hätten nach einer Therapie keine Probleme mehr, ein Drittel komme zwar zurecht, habe aber immer ein besonderes Verhältnis zum Essen, ein Leben lang. Und bei einem weiteren Drittel bleibe die Magersucht eine chronische Erkrankung.
Die Therapie ist heute viel besser geworden. Es sei noch nicht lange her, da sei jeder fünfte Betroffene an seiner Magersucht gestorben.
Auch nach einer erfolgreichen Behandlung bleiben oft Symptome bestehen, die zu einem Rückfall in die Krankheit führen können. Die Nachsorge ist daher bei der Behandlung der Magersucht wichtig.
(Quelle: Prof. Marcel Romanos und Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung)
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