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Kinder in Reichsbürgerfamilien: Eltern meiden Schulen und Kinder werden indoktriniert.

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Von Geburt an isoliert: Kinder in der Reichsbürgerbewegung

Von Geburt an isoliert: Kinder in der Reichsbürgerbewegung

Kinder geraten zunehmend ins Visier der Reichsbürgerbewegung. Eltern meiden Schulen und Kinder werden indoktriniert. BR-Recherchen liefern Einblicke in eine Parallelwelt, in der Institutionen abgelehnt werden und das Kindeswohl gefährdet sein kann.

Über dieses Thema berichtet: Der Funkstreifzug am .

Bürgermeister Jürgen Schnabel erinnert sich noch genau an den Tag, an dem er die Familie im Einwohnermeldeamt im Landkreis Hof trifft: "Die Ecken der Ausweise waren abgeschnitten, sodass sie nicht mehr brauchbar waren." Die Eltern wollen sich aus dem staatlichen Meldesystem verabschieden. Die Kinder, so erinnert sich Schnabel, saßen still daneben. In den folgenden Monaten flutet die Familie die Gemeinde mit Briefen und Faxen, die Inhalte der Reichsbürger-Ideologie erkennen lassen.

Wenn Eltern sich radikalisieren

Manche Schreiben sind in altdeutscher Schrift verfasst, andere mit Fingerabdruck anstelle einer Unterschrift versehen. Die Familie beansprucht Schadensersatz, behauptet, Opfer von "Identitätsdiebstahl" zu sein, und lehnt die Zusammenarbeit mit den Behörden ab, sagt Schnabel: "Der Königsweg wäre natürlich, die Eltern in unsere Gesellschaft zu integrieren."

Aber die Kommunikation sei schwierig. In der Gemeinde steht eine ganze Kiste mit dem Schriftwechsel. Die Kinder gingen nicht mehr zur Schule, berichtet das Jugendamt auf Anfrage. Nachbarn erzählen, die Eltern hätten sich radikalisiert, die Familie lebe isoliert und die Kinder täten ihnen leid.

Die Reichsbürger-Szene verändert sich

Kinder geraten nach Informationen von BR Recherche zunehmend in den Fokus der Reichsbürgerbewegung. Bisher stellte man sich den typischen Reichsbürger als männlich, weiß und bewaffnet vor. Doch die Szene verändert sich. Inzwischen rekrutiert sie gezielt Frauen und bringt Kinder früh auf ihre Linie. Vor allem auf dem sozialen Netzwerk Telegram werden die radikalen Botschaften verbreitet.

Schulen als Orte der Gehirnwäsche

"Nehmt alle Kinder aus Kindergärten und Schulen, bevorzugt Hausgeburten. Es geht um das Überleben eures Volkes und die Befreiung eures Landes", heißt es in einem Telegram-Post, der über 70.000-mal angesehen wurde.

Ein anderer Post aus einem Kanal, in dem Reichsbürger-Inhalte geteilt werden, fordert, Kinder zu Hause zu unterrichten, um sie nicht "staatlicher Indoktrination auszuliefern". In weiteren Beiträgen in dem sozialen Netzwerk werden Kinderkrippen als "Kinderkonzentrationslager" bezeichnet und Schulen als "Orte der Hirnwäsche". 

Reichsbürger-Szene bietet verstärkt familientaugliche Aktivitäten an

Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus 1.700 Telegram-Gruppen und 370 Reichsbürger-nahen Kanälen, die Reporterinnen des Bayerischen Rundfunks mit Hilfe des Centrums für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMas) analysiert haben. Auffällig ist, dass Verschwörungs-Influencer zunächst scheinbar unpolitische Themen wie Geburt oder Kindererziehung ansprechen, bevor im zweiten Schritt extremistische Botschaften folgen.

Die Szene hat Zulauf und Familien werden gezielt angesprochen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet beispielsweise, "dass verstärkt Aktivitäten wie Gemeinschaftsausflüge oder leichte Wanderungen angeboten werden, die familien- und kindertauglich sind". 

Misstrauen gegenüber dem Staat

Obwohl die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter zersplittert ist, eint sie das Misstrauen gegenüber dem deutschen Staat und seinen Institutionen. "Deshalb versuchen Reichsbürger, sich auf allen Ebenen zu entziehen", sagt der Politikwissenschaftler Jan Rathje von CeMas, der problematische Ideologien im Online-Bereich beobachtet. Dazu gehöre inzwischen auch der Versuch der Reichsbürger, ihre Kinder aus allen staatlichen Systemen herauszuhalten.

Kinder, die offiziell nicht existieren

Nach BR-Recherchen gehen Eltern in der Reichsbürger-Szene in ihrer Ablehnung staatlicher Institutionen noch weiter: Einige Kinder werden ohne medizinische Hilfe oder Hebamme zu Hause geboren – und nicht angemeldet. Eine Geburtsurkunde wird nicht beantragt. Diese Kinder existieren somit offiziell nicht.

Die Szene versucht auch, "alternative" Bildungsangebote aufzubauen, wie Verfassungsschutzbehörden mitteilen. Eltern verweigern ihren Kindern den Schulbesuch, die Schulpflicht wird teils über Jahre missachtet. Nach BR-Recherchen wachsen die Kinder zum Teil isoliert auf, werden früh indoktriniert – und Eltern verweigern Arztbesuche, Zahnpflege und Impfungen.

Kinder aus der Szene wurden in Obhut genommen

Die Situation der Familie im Landkreis Hof spitzte sich 2023 immer mehr zu. Es lagen mehrere Haftbefehle gegen die Eltern vor. Bürgermeister Jürgen Schnabel war beim Polizeieinsatz selbst vor Ort, weil er bei der Freiwilligen Feuerwehr ist: Die Familie hatte sich im Haus verschanzt, Straßen wurden gesperrt, Blendgranaten kamen zum Einsatz. Das Jugendamt nahm die Kinder in Obhut.

Der Vater berichtet BR-Reporterinnen, er habe nur noch Briefkontakt zu seinen Kindern. Die hätten nun eine Perspektive, sagen Menschen, die mit der Familie zu tun hatten.

Verpasste Schulstunden und Gehirnwäsche

Nach BR-Recherchen kommt es in der Szene immer wieder zu Inobhutnahmen der Kinder durch das Jugendamt. Die Hürden dafür sind hoch und es geschieht nur dann, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Das kann auch bei Isolation und Gehirnwäsche der Fall sein, etwa, weil Kinder in einer Parallelwelt aufwachsen und damit keinerlei Entwicklungschancen haben.

Der Weg raus

Je länger der Konflikt mit dem Staat andauert, desto schwieriger wird die Reintegration von Extremisten in die Gesellschaft. Daniela Marckmann, Leiterin der Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus, vergleicht die Reichsbürger-Szene mit einer Sekte: "Es ist ein Leben in Widersprüchen. Die Vernunft wird oft ausgeschaltet."

Ihr Team berät Behörden, bietet Workshops an Schulen an und besucht Extremisten zu Hause. Ziel der Gespräche ist es, Ausstiegswege aufzuzeigen. Soziale Kontakte sind entscheidend für die Rückkehr in die Gesellschaft, betont Marckmann. Besonders problematisch ist es daher, wenn Kindern diese Kontakte fehlen und sie nur das Weltbild der Reichsbürger kennen.

Mehr zu diesem Thema hören Sie am 2.10.2024 um 12.17 Uhr in der Sendung Funkstreifzug im Radioprogramm von BR24. Sie finden die Sendung schon jetzt im Funkstreifzug-Podcast in der ARD Audiothek.

Von ihren Besuchen bei zwei Familien erzählen die Reporterinnen im ARD Radiofeature, das unter anderem am Samstag, 5.10.2024, um 13.05 Uhr auf Bayern 2 gesendet wird. Es ist ab sofort abrufbar in der ARD Audiothek.

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