Um 18.30 Uhr warten Tausende um das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld herum auf einen Knall. Es ist still. Und die Stille wird nicht gestört.
"Da sitzt wohl einer auf einem Strommast", flüstert eine Zuschauerin. Sie zeigt die SMS einer Freundin. Kurz darauf bestätigt der Pressesprecher der Polizei das Gerücht: Ein Mann ist innerhalb der Sperrzone auf einen Mast geklettert. Die Sprengung kann erst einmal nicht stattfinden.
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Mit Klappstuhl und Kameras: 10.000 Zuschauer wollen Sprengung sehen
Fünf Stunden früher. Sonnenschirm? Gespannt. Kühlbox? Voll. Klappstuhl? Aufgestellt. Darin sitzt Olaf Müller und freut sich. Er ist schon seit 13 Uhr da. Für die Sprengung hat er sich extra freigenommen. "Ich freu mich, dass die Türme endlich wegkommen. Wir brauchen keine Atomkraft." Auch bereit: Eine Kamera auf einem Stativ, "dann können wir uns immer wieder an der Zerstörung der Türme erfreuen."
Um das Kernkraftwerk ist eine Absperrzone eingerichtet. Auch Straßen und Wege sind großräumig für Autos gesperrt. Gegen Nachmittag staut es sich in den umliegenden Ortschaften. Laut Polizeiangaben sind rund 10.000 Menschen an den Rand der Sperrzone gekommen. An manchen Stellen, beispielsweise westlich des Mains zwischen Hergolshausen und Bergrheinfeld, herrscht ausgelassene Stimmung.
Video: Kühlturm-Sprengung des früheren AKW-Grafenrheinfeld
Ein Stück Heimat soll verschwinden
33 Jahre war das Kernkraftwerk aktiv. 2015 wurde es abgeschaltet. Jetzt sollen die Türme weg. Für die Politik ist die Sprengung ein sichtbares Zeichen für das Ende der Atomkraftwerke in Deutschland. Einige Anwohner sind wehmütig. "Wenn ich unterwegs war, heimgefahren bin und die Türme gesehen habe, habe ich immer gleich gewusst: Jetzt sind wir gleich zu Hause in Schweinfurt. Man hätte sie als Wahrzeichen auch stehen lassen können", sagt Dominik, der noch ein Abschiedsselfie vor den Kühltürmen schießt.
Gemischte Gefühle hat Erwin Bischofberger. Als Elektroingenieur arbeitete er Anfang der 1980er im Kraftwerk, als es frisch in Betrieb ging. "Wir waren uns sicher, dass wir hier sehr gute Anlagen bauen. Und das haben wir. Das Problem ist ja nicht die Anlage, sondern die Entsorgung." Für die Sprengung ist er aus dem Allgäu hergereist.
Lange Vorbereitung – doch kein Knall
Gegen 17.20 Uhr wurden vier von fünf 380-Kilovolt-Hochspannungstrassen abgeschaltet. In Grafenrheinfeld kommen Trassen zusammen, die für die Stromversorgung von ganz Europa wichtig sind. Zu viel Staub auf den Isolatorenketten nach der Sprengung könnte Stromkreise unterbrechen. Die Vorbereitung dafür lief ein knappes Jahr.
Um kurz vor 18.30 Uhr sind die Handykameras gezückt. Gespannt blicken Tausende auf die zwei Kühltürme des Kernkraftwerks und warten auf die Sprengung – doch es passiert nichts. Minutenlang. Dann fahren Einsatzkräfte in die Sperrzone. Wie die Polizei mitteilt, soll dort ein Pro-Atomkraft-Aktivist auf einem Strommast in zehn Meter Höhe sitzen. Es sei ungewiss, ob heute noch gesprengt werden kann.
"Ich finde das nicht okay", sagt Zuschauerin Dorothe Knot. "Der Atomausstieg ist nun mal beschlossen. Und dass so viele Menschen jetzt wegen einem einzigen warten müssen, das finde ich nicht richtig."
Wumms mit Verspätung
Dann kann es doch noch losgehen. Polizeikräfte sollen den Aktivisten heruntergeholt haben. Wieder nehmen alle Aufstellung. Wieder Handys, wieder warten, wieder Stille.
Um 19.56 Uhr knallt es das erste Mal, etwa so laut wie ein Donner. Der erste Zylinder sinkt hinab. Die Betonwände sacken in sich zusammen, als wären sie aus schwerem Stoff. Dann ein zweiter Knall. Der andere Turm fällt. Nicht mehr so gut sichtbar, denn Staub verschlingt schon seinen Fuß. Dröhnend versinkt der Turm in der Wolke.
Staubwolke hüllt Zuschauer ein
Dann ist es wieder ruhig. Manche klatschen, aber es sind wenige. Ein paar weinen. Die Staubwolke kriecht Richtung Südwesten, Richtung Zuschauer. Von der Sonne in Orange getaucht, treibt sie die Menschen vor sich her, die zügig gehen. Als die Wolke sie erreicht, pressen sich die meisten Taschentücher vor Mund und Nase, denn der Betonstaub schmeckt scharf.
"Es war eine gelungene Sprengung", meint Sprengexperte Jürgen Bartsch. "Wenn auch ein bisschen viel Staub."
Trotz Störung: "Sprengung super gelaufen"
Nach der Sprengung kontrollierte Sprengingenieurin Ulrike Matthes den Sprengbereich. Um 21.34 Uhr tritt sie vor die Pressemikrofone: "Die Sprengung ist aus unserer Sicht super gelaufen, so wie wir es über viele Monate geplant haben. Die Türme sind genauso gefallen, wie sie sollten. Auch wenn es eine kleine Verzögerung gab, bin ich sehr zufrieden."
Die Scheiben der parkenden Autos vor dem stillgelegten Kernkraftwerk sind mattgrau. Mittlerweile hat sich der Betonstaub gelegt. Im letzten Licht des Tages sieht man dort, wo Jahrzehnte zwei Kühltürme standen, nur noch den Abendhimmel.
Anmerkung der Redaktion: Die ursprünglich geplante BR24live-Begleitung der Kühlturm-Sprengung konnte aufgrund von Verbindungsproblemen mit dem Live-Signal nicht stattfinden.
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