Die Sonne scheint durch den engen Wohnungsflur. Durch die große, helle Küche gelangt man direkt in das Atelier der Passauerin Gertie Harking. An den Wänden hängen Harkings Bilder, die von Alltagssituationen inspiriert sind: Frauen mit Hüten im Café oder italienische Landschaften. Neben Leinwänden nutzt Gertie Harking auch Materialen wie alte Holzstücke ihres Balkons oder Treibholz aus dem Inn.
Die 68-jährige war aber nicht immer Künstlerin. Aufgewachsen auf einem Bauernhof im Ruhrgebiet, war sie zunächst 15 Jahre lang in der Krankenpflege tätig, bevor sie an einer schweren Hepatitis erkrankte. Dieser Schicksalsschlag veränderte ihr Leben und er beeinflusste ihre neue Berufswahl: Sie wird Künstlerin und Kunsttherapeutin. Damit kann sie nicht nur Menschen begeistern, sondern auch Hilfe für Menschen im Ausnahmezustand leisten.
Fachverband: Kunsttherapie kann Empathie fördern
Gertie Harking erzählt von einem Mädchen, das im Alter von zehn Jahren zu ihr in Therapie ging und im Kinderheim lebt: "Ich konnte sie und ihren Kummer kunsttherapeutisch abholen." Die Kunsttherapeutin hat aber auch neun Jahre mit Mehrfachbehinderten in Gruppentherapien gearbeitet, finanziell gefördert durch die Lebenshilfe Passau.
Laut Manuela Kahle vom deutschen Fachverband für Kunst- und Gestaltungstherapie könne Kunsttherapie Empathie, Selbstbeobachtung und Beziehungsfähigkeit fördern. "Mit zeichnerischen, malerischen oder anderen Medien werden psychische Entwicklungsprozesse ermöglicht. Es entstehen sinnlich erfahrbare Werke, die Gefühle und Erinnerungen abbilden", sagt Kahle.
Therapeutin profitiert selbst von Therapie
Nicht nur die jungen Erwachsenen mit einer Behinderung konnten viel von Gertie Harking lernen, auch sie selbst habe viel mitgenommen – auch für ihre Kunst. "Die Malenden wollen keine perfekten Bilder malen, sondern sie wollen einfach nur malen. Sie fragen sich nicht, ob die Physiognomie einer Person stimmt, stattdessen geht es nur um den Prozess." So habe sie gelernt, dass ihre Bilder nicht perfekt sein müssen, sagt Harking. Oft reiche ein Gefühl.
Aus der Krise Kreativität schöpfen
Die ehemalige Krankenpflegerin weiß selbst, wie sich Krisen anfühlen. Nach schwerer Hepatitis-Erkrankung hatte sie genug von der bedrückenden Atmosphäre der Krankenhauszimmer. "Heutzutage sehe ich die Krankheit als eine Art Geschenk an." Es habe ihr geholfen, sich durch ihre Kunst wiederzufinden und sich auszudrücken, sagt die Passauerin. Manchmal mache ihr die gesamtgesellschaftliche Lage zu schaffen. In ihrem zweiten Beruf wird sie zudem oft mit schwierigen Themen ihrer Patienten konfrontiert: Gewalt oder Missbrauch gehören nicht selten zu den Geschichten, die ihr Klienten erzählen.
Zur Verarbeitung nimmt sie einmal im Monat selbst an einer Kunsttherapie teil. "Diesen Ausgleich zwischen der Schwere und der Leichtigkeit zu schaffen, finde ich total wichtig."
- Zum BR Podcast: Kunsttherapie - Kann Kunst die Psyche heilen?
Dieser Beitrag entstand in der Lehrredaktion Audio/Video des Studiengangs Journalistik und Strategische Kommunikation an der Universität Passau in Zusammenarbeit mit Journalistinnen und Journalisten aus dem BR-Studio Niederbayern/Oberpfalz. Weitere Geschichten über Kultur in Niederbayern finden Sie unter www.br24.de/niederbayern.
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