Am Abend spielt Kerstin Rathgebs Sohn Leo in einem Konzert mit. Sie aber kann nicht mit dabei sein. Die Veranstaltung findet im vor einigen Jahren renovierten Zehntstadel in ihrem Wohnort Dattenhausen im Landkreis Dillingen statt. In den Saal kommt sie zwar, aber die Toilette ist nur über eine steile Treppe erreichbar - für sie als Rollstuhlfahrerin ein unüberwindbares Hindernis. Auch ob sie an der Einschulung ihrer Tochter teilnehmen kann, ist fraglich. Denn die Grundschule in Wittislingen ist ebenfalls nicht barrierefrei.
Dabei hat der damalige Ministerpräsident Horst Seehofer im Jahr 2013 ein klares Ziel ausgegeben: Bayern soll bis 2023 barrierefrei sein. Doch davon sind selbst viele staatlichen Einrichtungen bis heute weit entfernt.
Mit Rollstuhl zum Kindergarten: Ohne Hilfe nicht möglich
Bei Kerstin Rathgeb wurde vor 20 Jahren Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert. In den vergangenen Jahren hat sich der Zustand der 40-Jährigen deutlich verschlechtert, obwohl sie dagegen ankämpft, so gut es geht. Seit November ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen. Der Weg zum Kindergarten wurde dadurch für sie zu einem großen Hindernis, denn der ist weit weg im Nachbardorf.
Nach langer Auseinandersetzung mit der Krankenkasse hat Kerstin Rathgeb ein Zuggerät für den Rollstuhl bekommen. Damit schafft sie es bis zum Kindergarten und kann ihre Tochter Magdalena selbst abholen. Eine Freiheit, die ihr extrem wichtig ist, wie sie im BR-Politikmagazin Kontrovers sagt: "Mit so einer Krankheit musst du diese Einstellung haben, sonst hat sie dich!" Hürden aber gibt es auf dem Weg immer noch: Beispielsweise geht das Hoftürchen zum Kindergarten nur nach innen auf, Magdalena muss es für ihre Mama öffnen.
Keine Wahlfreiheit bei Ärzten und Pflegedienst
Die weiten Wege auf dem Land führen für Menschen mit Handicap oft zu zusätzlichen Einschränkungen. Als MS-Erkrankte ist Kerstin Rathgeb auf die regelmäßige ärztliche Behandlung durch Neurologen angewiesen. Ihren Neurologen aussuchen, wie ebenfalls an MS erkrankte Bekannte aus Augsburg es können, kann Kerstin Rathgeb nicht. Im Landkreis Dillingen mit knapp 100.000 Einwohnern gibt es genau eine neurologische Praxis.
Die 40-Jährige ist frustriert: "Das stört mich am allermeisten, dass ich keine Wahl habe. Ich muss den Arzt nehmen, der da ist, weil es nur den einen gibt. Ich muss den einen Pflegedienst nehmen, ich muss den einen Supermarkt nehmen. Ich habe keine Wahl. Und wenn es nicht barrierefrei ist, bin ich aufgeschmissen. Dann kann ich nicht dabei sein."
Haushaltshilfe nicht genehmigt, Anfahrt zu weit
Seit Kerstin Rathgeb im Rollstuhl sitzt, braucht sie außerdem Hilfe im Haushalt. Eine Stunde pro Woche hat ihr die Pflegekasse zunächst genehmigt. Dafür aber fand sich kein Pflegedienst: Da bleibe - im wahrsten Sinn des Wortes - zu viel Zeit auf der Strecke, so die Begründung. Erst als Kerstin Rathgeb bei der Pflegekasse eine höhere Pflegestufe durchsetzen konnte und damit Anspruch auf drei Stunden Unterstützung pro Woche hat, hat sie - nach etwa einem halben Jahr Suche - einen Pflegedienst gefunden, der die Fahrt auf sich nimmt.
Weite Wege und hohe Spritpreise: Pflegedienste überfordert
Beim Lauinger Pflegedienst kennt man das Problem: "Wir haben Anfragen ohne Ende, gerade aus den Dörfern", sagt Geschäftsführer Tom Kampfinger. "Wir wollen den Menschen auch helfen." Doch zum einen fehle es an Personal, sagt sein Partner Oleg Dann. Zum anderen bereiten die gestiegenen Spritpreise dem Pflegedienst große Schwierigkeiten: "Wir können diese weiten Fahrten, teils sind es 130 Kilometer bei einer Tour - und das zwei Mal am Tag, früh und abends - bald nicht mehr anbieten", räumt er gegenüber Kontrovers ein. Er sagt, die Krankenkassen müssten mehr bezahlen für die Anfahrt, sonst könnten Pflegebedürftige auf dem Dorf in absehbarer Zeit nicht mehr betreut werden.
Ohne Eigeninitiative keine Chance
Kerstin Rathgeb hat die Zusage zum Glück schon vor einigen Wochen bekommen und ist froh über ihre nette Haushaltshilfe. Was sie aber ärgert: "Niemand sagt einem, was einem zusteht. Weder die Krankenkassen, noch die Pflegekassen, niemand. Alles muss man sich selbst aneignen und nachfragen. Meist wird erst einmal alles abgelehnt", sagt die 40-Jährige und spricht damit aus Erfahrung: Immer wieder hat sie Widersprüche verfasst gegen Ablehnungen der Krankenkasse. Irgendwann wurden die beantragten Hilfsmittel dann doch gewährt. Oft kämen die Kassen aber damit durch, "weil viele Betroffene sich einfach nicht wehren und keinen Widerspruch einlegen".
Hilfe für andere MS-Kranke
Weil sie sich inzwischen gut auskennt im Formulardschungel, bietet sie anderen MS-Kranken Unterstützung an. So hat sie ihre Freundin Cori kennengelernt, die beiden haben sich über Instagram gefunden. Cori ist 33 Jahre alt und ebenfalls an MS erkrankt. Inzwischen treffen die beiden sich regelmäßig, tauschen sich aus. Das tut ihnen, aber auch ihren Kindern gut. "Das ist so schön, dass die Kinder sich untereinander haben. Freunde haben ist schön. Aber Freunde zu haben, deren Mütter die gleiche Scheiße an der Backe haben, ist was anderes – die kennen das, wenn es heißt: ‚Meine Mama kann das nicht‘."
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