Vorsichtig legt die 40-jährige Melanie Hermann aus Plattling die Cannabis-Blüten mit einer kleinen Kelle auf die Waage. Für sie ist das mittlerweile Routine. Seit ihrer Geburt leidet sie an einer Darmerkrankung. Dazu kamen weitere Krankheiten. Viel hat sie ausprobiert, wenig hat geholfen. Ihr Leben sei von Verzicht und Ablehnung gekennzeichnet gewesen, erzählt sie. Dann probierte sie Cannabis aus. Und es half ihr. "Ich konnte Medikamente absetzten, die schwere Nebenwirkungen haben. Ich kann essen und trinken, was ich will und ich kann wieder Freude finden", erzählt sie.
Kassen müssen Kosten für medizinisches Cannabis tragen
Seit 2017 müssen die Krankenkassen die Kosten für medizinisches Cannabis übernehmen. Doch das ist in vielen Fällen mit Problemen verbunden - so auch bei Melanie Hermann: "Bis zur Kostenübernahme war es ein langer, steiniger und teurer Weg" erzählt die Mutter aus Plattling. Zunächst stellte sie einen Antrag für Extrakte, der erstmal abgelehnt wurde. Erst in einem zweiten Anlauf kam die Genehmigung. Dann musste sie krankheitsbedingt auf Blüten wechseln. Auch diesen Antrag lehnte die Kasse erstmal ab. Der zweite Antrag hatte Erfolg.
Auf Grund ihrer Darmerkrankung wog sie nur noch etwas über 30 Kilogramm. Seit 2021 läuft ihre Cannabis-Therapie problemlos. Die Kosten trägt die Kasse. Seitdem geht es ihr gut. "Ich kann wieder mit Freunden essen gehen, ohne Sorge zu haben, dass ich Koliken bekomme oder gar ins Krankenhaus muss. Ich kann länger Spazierengehen, ich friere nicht mehr so schnell. Meine Lebensqualität hat sich enorm gesteigert." Sie brauche auch weniger andere Tabletten. Viele Schmerzpatienten erleben den Weg zur erleichternden Cannabis-Therapie ähnlich.
Rund ein Drittel der Anträge wird abgelehnt
Laut Gesetz haben Versicherte mit schwerwiegenden Erkrankungen einen Anspruch auf eine Versorgung. Bedingung ist, dass andere anerkannte Behandlungsmethoden nicht zur Verfügung stehen oder der Arzt begründete Bedenken wegen Nebenwirkungen gegen andere Therapien hat oder Aussicht auf eine spürbare positive Entwicklung des Krankheitsverlaufs oder der Symptome besteht. Zur Therapie stehen dann Sprays, Öle, Dragees oder Blüten zur Verfügung. Blüten wirken hierbei besonders schnell und belasten nicht den Magen, dennoch werden besonders häufig Therapien mit Cannabis-Blüten abgelehnt.
Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern teilt zwar mit, dass die Zahlen seit 2017 kontinuierlich steigen: 2021 haben über 11.000 Menschen in Bayern Cannabis Arzneimittel bekommen. Dennoch wird bayernweit rund ein Drittel der Anträge abgelehnt. Begründung: Die gesetzlichen Vorschriften seien nicht erfüllt. Einer von ihnen ist Luigi Spangenberg aus Ingolstadt. Seit Jahren stellt er Anträge.
Alle Anträge bei Ingolstädter Patienten abgelehnt
Luigi Spangenberg ist 38 Jahre alt. Als Jugendlicher erkrankte er an einer chronischen Darmkrankheit und Epilepsie. In seiner Jugend war er sportlich, mittlerweile ist er Frührentner. "An schlechten Tagen habe ich Krämpfe, Durchfall, Schwindel. Und auch psychisch geht es mir schlecht. Ich habe viele Schmerzen, ich bekomme die Medizin, die helfen würde, nicht, das zieht mich runter. Ich frage mich dann auch immer öfter, ob das alles noch Sinn macht."
Der Ingolstädter hat nach eigenen Angaben schon alle möglichen Medikamente ausprobiert, aber nichts habe ihm geholfen. Seine Anträge auf eine Therapie mit Cannabis-Blüten hat die Krankenkasse abgelehnt. Die AOK teilt dazu auf BR-Anfrage mit: "Seinen Antrag auf die Versorgung mit Cannabis konnten wir nicht genehmigen, da die sozialrechtlichen Kriterien nicht erfüllt sind. Wir haben Herrn Spangenberg über unsere Entscheidung am 02.09.2022 schriftlich informiert und ihn auf die Möglichkeit hingewiesen, dagegen innerhalb eines Monats Widerspruch einzulegen, was jedoch nicht erfolgte."
Es fehlten beispielsweise Rezepte für die Epilepsie-Medikamente. Diese bezieht Spangenberg nicht, da er sie nicht verträgt, teilt er mit. Ein weiterer Punkt: Die Krankenkasse wirft ihm Missbrauch vor. Spangenberg versichert: Außerhalb seiner Therapie konsumiere er keine Drogen. Aktuell bezieht Spangenberg seine Cannabisblüten über Privatrezept, das ihm sein Hausarzt ausstellt.
Cannabis über Privatrezept - eine Geldfrage
Das medizinische Cannabis über Privatrezept ist teuer. Das Geld bei Familie Spangenberg ist knapp. Seine Mutter unterstützt, wo es geht. Aber das Geld reicht nur für die Hälfte des Monats. "Zum einen muss ich zusehen, wie es meinem Sohn jeden Monat schlechter geht - obwohl ihm geholfen werden könnte. Und zum anderen geht das ganze Geld an die Apotheke für Cannabis. Das ist auch ein sozialer Abstieg. Es bleibt kein Geld für den Einkauf, für Kleidung oder einen Frisörbesuch", berichtet Sabine Spangenberg.
Zwischenzeitlich wog ihr Sohn nur knapp 40 Kilogramm. "Er ist total unglücklich. Er ist den ganzen Tag isoliert, es geht ihm oft sehr schlecht. Ich würde mir für ihn wünschen, dass er einfach auch wieder rausgehen kann, vielleicht arbeiten oder eine Freundin finden", meint Sabine Spangenberg. Sein Arzt Lorenz Eberle aus Geisenfeld unterstützt seinen Patienten und erachtet die Cannabis-Therapie bei Epilepsiepatienten als "hochgradig sinnvoll".
Die Probleme mit der Kostenübernahme, die Spangenberg hat, seien kein Einzelfall. Von rund 50 seiner Cannabis-Patienten hätten etwa 40 ähnliche Schwierigkeiten, so der Mediziner. Er selbst hat sich an der Universität in Dresden zum Thema medizinisches Cannabis weitergebildet. Viele seiner Kollegen seien aber noch skeptisch, was das Cannabis in der Medizin angeht: "Dazu kommt, dass viele Angst haben, dass der Staatsanwalt kommt, sie bestraft werden oder etwas nicht gelingt, weil die Erfahrung fehlt. Das ist ein echtes Problem und man müsste hier die Ärzte viel mehr schulen".
Dazu komme der große Aufwand für die Ausstellung eines Rezeptes, da müsse viel dokumentiert werden und im Anschluss der Patient begleitet werden. Der finanzielle Verdienst dagegen sei sehr gering, erklärt der Arzt.
Viele Ärzte kennen sich noch nicht aus
Auch sechs Jahre nach der Gesetzesänderung sei es für viele Patienten schwierig, Ärzte zu finden, die sich zum einen mit der Thematik auskennen und zum anderen auch bereit seien, den Aufwand für ein Rezept zu betreiben, teilt der Bund Deutscher Cannabis-Patienten auf BR-Anfrage mit. "Insbesondere die Therapie mit Cannabis-Blüten, auf die viele Betroffene, wie beispielsweise MS-Erkrankte oder Migränepatienten, wegen des schnellen Wirkeintritts durch die inhalative Einnahme über einen Vaporisator angewiesen sind, wird von der GKV (Verband der Gesetzlichen Krankenkassen) schon jetzt meist kategorisch abgelehnt und es wird maximal ein oral einzunehmendes Cannabis-Arzneimittel bewilligt", schreibt der Verein. Und es könnte für die Betroffenen noch schwieriger werden.
Verschärfung der Richtlinien wird diskutiert
Seit der Gesetzesänderung 2017 lief parallel eine medizinische Begleiterhebung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Eigentlich hätten sich daran alle Ärzte, die medizinisches Cannabis verschreiben, beteiligen sollen und die Entwicklung der Therapie dokumentieren sollen. Die eingegangenen Daten weisen allerdings erhebliche Lücken auf, berichtet das BfArM.
Insgesamt seien lediglich 21.000 Datensätze beim BfArM eingegangen. Die tatsächliche Zahl der Verschreibungen liegt aber deutlich höher. Alleine in Bayern hat die Kassenärztliche Vereinigung für 2021 über 11.000 Verschreibungen erfasst. Bundesweit wird die Zahl auf zirka 80.000 Patienten geschätzt. Nachdem die Begleiterhebung, bei der es sich nicht um eine medizinische Studie handelt, abgeschlossen ist, berät nun der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) über das weitere Vorgehen bei medizinischem Cannabis: "Der G-BA ist vom Gesetzgeber beauftragt, auf der Grundlage der BfArM-Begleiterhebung innerhalb von sechs Monaten das Nähere zur Leistungsgewährung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon zu regeln", teilt der Ausschuss auf BR-Anfrage mit.
Konkret sehen die geplanten Änderungen vor, dass beispielsweise künftig nur noch Fachärzte und nicht wie bislang auch Allgemeinmediziner Cannabis verschreiben dürfen.
Einschränkungen bei Cannabis-Blüten geplant
Ein weiterer Punkt betrifft die viel diskutierten Cannabis-Blüten: Sie sollen nur noch verschrieben werden dürfen, wenn bereits andere Cannabis-Medikamente ausprobiert worden sind. Eine Entscheidung und wie diese dann in der Praxis umgesetzt werden soll, steht in den nächsten Wochen an. Der Bund Deutscher Cannabis Patienten e.V. nennt die geplanten Änderungen eine Katastrophe. "Sollten diese Änderungen in voller Härte umgesetzt werden, würde dies einen enormen Rückschritt nahezu in die Zeit vor 2017 für alle Betroffenen bedeuten, da das komplette Kostenerstattungsverfahren der gesetzlichen Krankenkassen deutlich erschwert und verkompliziert werden soll", teilt eine Sprecherin des Vereins auf BR-Anfrage mit.
Auch Melanie Hermann aus Plattling macht sich deshalb schon jetzt große Sorgen, um ihre weitere Therapie: "Ich kann und will es mir gar nicht vorstellen. Das wäre, wie einem Diabetespatienten das Insulin wegzunehmen". Und für Luigi Spanngenberg aus Ingolstadt würde es diese Änderung noch deutlich schwerer machen, irgendwann die Kostenübernahme genehmigt zu bekommen.
- Zum Artikel: Gras auf Rezept – Medizinisches Cannabis im Kreuzfeuer
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