Gibt es immer mehr Gewalt an Bayerns Schulen? Dieser Schluss liegt nahe, wenn man sich die von der Polizei registrierten Gewaltdelikte anschaut. Beispiel leichte Körperverletzung: Hier gab es im Jahr 2022 laut Landeskriminalamt 1.674 erfasste Fälle. Im Vor-Corona-Jahr 2019 waren es 1.422.
Bei schwereren Delikten, der Gewaltkriminalität, gab es in den verglichenen Zeiträumen ebenfalls einen Anstieg – von 424 auf 554 erfasste Fälle. Als Tatörtlichkeiten erfasst waren in allen Fällen öffentliche Schulen, Förderschulen, private und sonstige Schulen, Internate und Ausbildungsanstalten.
Deutlich öfter gefährliche und schwere Körperverletzung
Auf BR24-Anfrage erläutert das Landeskriminalamt, wie sich die Fälle von Gewaltkriminalität aufschlüsseln. Beispiel Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Übergriff im besonders schweren Fall: Hier registrierte die Polizei im Jahr 2022 insgesamt 12 Fälle. Im Jahr 2019 waren es bayernweit 10 Fälle. Einen klaren Anstieg gab es bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung – von 389 auf 492 erfasste Fälle.
Dieser Trend setzte sich auch im vergangenen Jahr fort. Die Zahl der registrierten Gewaltdelikte an bayerischen Schulen stieg 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 24,5 Prozent. Das sagte der stellvertretende Chef des Landeskriminalamtes (LKA), Guido Limmer, am Montag bei der Vorstellung der polizeilichen Kriminalstatistik. Über die Ursache herrscht demnach noch Unklarheit.
Herrmann: Anstieg problematisch, Zahl aber in Relation sehen
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hält den jüngsten Anstieg für "problematisch". Herrmann wies bei der Pressekonferenz zur Kriminalstatistik allerdings auch darauf hin, dass die Zahl in Relation zur Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler in Bayern sehr niedrig sei.
Tatsächlich gehört diese Information beim Vergleich verschiedener Jahre dazu. Im Jahr 2019 gab es laut dpa-Angaben im Freistaat rund 1,65 Millionen Schülerinnen und Schüler. Im Jahr 2022 waren es rund 1,67 Millionen. Bei der Gewaltkriminalität lag die Zahl der erfassten Fälle pro Schüler im Jahr 2019 demnach bei 0,00026. Im Jahr 2022 lag der Wert bei 0,00033.
BLLV-Präsidentin Fleischmann: "Klima wird rauer"
Dass die registrierten Fälle von Gewalt an den bayerischen Schulen zuletzt gestiegen sind, wundert Simone Fleischmann nicht. Die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) sagt auf BR24-Anfrage: "Schon seit Jahren weisen wir darauf hin: Das Klima wird rauer." Fleischmann betont, das gelte auch für die Zahl der Angriffe auf Lehrkräfte. Im Jahr 2022 wurden laut den LKA-Zahlen 43 Lehrkräfte leicht verletzt.
Es gebe mehrere Gründe für den Anstieg der Gewaltdelikte, sagt die BLLV-Präsidentin. "Die politische Lage, eine immer hitzigere und aggressivere Gesellschaft, der negative Einfluss von sozialen Netzwerken und der dortige Ton – generell nehmen Hass und Hetze zu." Fleischmann ist ein Punkt wichtig: Das Problem zunehmender Gewaltbereitschaft gelte für alle Schulformen. "Das hängt nicht vom Intellekt ab. Teilweise können übrigens auch Kinder aus besten sozioökonomischen Verhältnissen Konflikte nicht mehr gewaltfrei lösen."
Die Lösung laut der Lehrervertreterin: noch mehr Aufklärung und Intervention. Es gebe genug gute Programme und Ansätze in den Schulen – Anti-Gewalt-Trainings, Streitschlichter-Programme, Schulpsychologen und mehr. "Es muss nicht immer die Polizei in die Schulen kommen, um über Mobbing und Gewalt aufzuklären", sagt Fleischmann. "Wir Lehrkräfte können das auch." Das Problem sei aber der Lehrkräftemangel: "Wir haben immer mehr Aufgaben, aber sind nicht genug dafür."
Gewerkschaft fordert Ausbau der Schulsozialarbeit
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert als Reaktion auf die neuen Gewaltzahlen, die Sozialarbeit an den Schulen auszubauen. Aktuell könnten die Schulen das nötige Maß an Vorbeugung gegen Gewalt nicht leisten, sagt GEW-Vorständin Anja Bensinger-Stolze. Das berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland.
"Der dramatische Lehrkräftemangel und die viel zu geringe Zahl an Schulsozialarbeiterstellen führen dazu, dass die präventive Arbeit vor Ort oft nur stark eingeschränkt zu leisten ist, sagt Bensinger-Stolze. Ein erster richtiger Schritt sei mit einem neuen Programm von Bund und Ländern zwar gemacht, es reiche aber noch nicht. Mit dem Programm will der Bund den Bundesländern ab Sommer 2024 zusätzlich Fördergeld für schulische Sozialarbeit zur Verfügung stellen.
Schulpsychologin: Corona als Brandbeschleuniger
Für die Sozialpsychologin Catarina Katzer ist der Anstieg von Gewalt an Bayerns Schulen ebenfalls alarmierend. Aus ihrer Sicht hat vor allem Corona wie ein Brandbeschleuniger gewirkt: Die fehlenden Sozialkontakte und der Krisenmodus hätten dazu geführt, dass Schüler und Schülerinnen verlernt hätten, miteinander zu kommunizieren und Konflikte zu lösen, sagte Katzer im BR Fernsehen. Zudem würden unter diesen Bedingungen Emotionen wie Angst und Wut schneller in Gewalt umschlagen.
Neben der physischen Gewalt nehme auch die Gewalt in der virtuellen Welt zu, beides bedinge sich gegenseitig, erklärte Katzer. Um der Gewaltspirale entgegenzuwirken, fordert sie verpflichtende Gewaltprävention an allen Schulen, wenn möglich auch schon in Kitas. In anderen Ländern wie Finnland seien die Gewaltzahlen auf diese Weise deutlich niedriger.
Video: Kriminalstatistik 2023 – Mehr Straftaten in Bayern als im Vorjahr
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